Mitten im Netz von Gleichgesinnten – Mirranda Tiri – Zimbabwe

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari

Vielen kanthari Absolventen, die die ersten großen Wellenbrecher hinter sich gelassen haben, geht es genau wie uns damals vor vielen Jahren. Obwohl es scheint, als seien die größten Hindernisse überwunden. Obwohl man weiß, in welche Richtung es nun gehen soll. Wir alle fallen früher oder später in ein Loch, aus dem wir uns nur mit Mühen wieder hinausmanövrieren können. Man fühlt sich allein, unverstanden und vielleicht etwas fehl am Platz. Denn kanthari zu sein bedeutet oft, ganz anders als andere an Probleme heranzugehen.

Wenn man keinem Netzwerk von ähnlich funktionierenden, ähnlich denkenden Menschen angehört, wenn man nicht von anderen Projekt-Initiatoren motiviert und zum Weitermachen angefeuert wird, dann ist man schnell am Ende und das, noch bevor das Projekt erst richtig angefangen hat.

Damals in Tibet hatten wir enge freundschaftliche Kontakte zur recht überschaubaren Expatriot-Community. Zu Franzosen, Belgiern, Italienern und Engländern, die für die dort Ansässigen Hilfsorganisationen arbeiteten. In Krisenzeiten, wenn Spendengelder ausblieben und wir unsere blinden Kinder für den Winter nicht einkleiden konnten, dann half man uns schnell und unbürokratisch aus. Im Gegenzug revanchierte sich Paul mit technischem Knowhow, sorgte für erste Internetanschlüsse oder zeichnete Baupläne für Dorfkliniken und Büroräume. Zusammen feierte man Geburtstage oder Halloween. Diejenigen, die den langen kalten Wintern trotzten, kamen zusammen, um sich an einem Elektro-Ofen, der aufgrund mangelnder Elektrizität eigentlich nicht legal betrieben werden durfte, zu wärmen, und gemeinsam fabrizierten wir aus uns unbekannten lokalen Lebensmitteln so etwas wie eine Pizza oder ein Pasta Gericht.

Was uns jedoch trotz der vielen Freundschaften in der Fremde fehlte, waren Gleichgesinnte. Bei den Expats handelte es sich zum Großteil um Delegierte von Medicines sans Frontieres oder Save the Children, selten um die Gründer der Organisationen selbst. Wir sehnten uns nach Kontakten zu Leuten, die wie wir so verrückt waren, sich zu zutrauen, ein Hilfsprojekt, eine Schule, oder eine Klinik aus dem Boden zu stampfen. Es war doch etwas ganz anderes, ob man “nur” die im fernen Europa ausgeklügelten Hilfsmaßnahmen umsetzte, von anderen gesammelten Spendengeldern ausgab und vorher entschiedene Operationen ausführte oder ob man gleichermaßen Verantwortung für alle projektrelevanten Teilbereiche hatte. Daher wünschen wir uns heute, dass es den kantharis mit ihren Netzwerken besser ergeht. Wir freuen uns über jegliche Anzeichen der generationenübergreifenden Solidarität.

Besonders diejenigen, die aus Ländern stammen, in denen schon viele kantharis erfolgreich wirken, haben großes Glück. Denn während Freunde oder Familienangehörige den neuen, oft sehr unkonventionellen Projekt-Ideen eher skeptisch gegenüberstehen, haben die erfahrenen kantharis immer ein offenes Ohr. Und, da sie die Bürokratie, die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen ihres eigenen Landes aus erster Hand genau kennen, können sie den “Startern” mit praktischen Problem-Lösungen zur Seite stehen.

Ein gutes Beispiel für ein Solidaritätsnetzwerk unter kantharis ist die Gruppe aus dem Süd-Afrikanischen Zimbabwe. Besonders die Berichte Mirrandas machen deutlich, wie wichtig solch eine generationsübergreifende Hilfestellung in der Anfangsphase sein kann.

Nachdem Mirranda vor knapp einem Vierteljahr nach Zimbabwe zurückgekehrt ist, mache ich einen ersten Anruf:

“Hallo?”

“Hi!”

“Kannst Du mich hören?”

Immer das Gleiche, denn entweder hier oder auf der anderen Seite der Welt, irgendwo gibt es immer Internet Probleme. Das schreckt uns aber nicht davon zurück, uns regelmäßig mit den frisch zertifizierten kantharis auszutauschen. Und in dieser Woche ist Mirranda an der Reihe. Sie gehörte, mit ihren 20 Jahren, zu den jüngsten kanthari Teilnehmern. Offiziell heißt es auf unserer Webseite, dass wir erst ab 22 Jahren Anmeldungen akzeptieren. Sonst sehen wir uns offen für alle Altersgruppen. Nun, ein gutes Maß an Lebenserfahrung muss schon sein. Als wir aber die Bewerbung von Mirranda durchsahen und uns ein kleiner Einblick in ihren Lebenslauf gewährt wurde, verlor das Mindestalter seine Bedeutung.

Während des siebenmonatigen Kurses hier in Kerala saß ich mit Mirranda für viele Stunden auf unserer Dachterrasse und hörte mir ihre Lebensgeschichte an. Ich war erschüttert, erstaunt, sprachlos und dann wieder voller Bewunderung. Beim Zuhören musste ich mir wieder und wieder vor Augen halten, dass sie all das, was mindestens drei Leben hätte füllen können, in nur 20 Lebensjahren erfahren hatte.

Mirranda war gerade einmal sechs Jahre alt, als die Mutter, die von Gewalt und Alkohol überschattete Beziehung mit ihrem Mann nicht mehr aushielt. Sie liess die Kinder beim Vater zurück, um selbst ein neues Leben in Südafrika zu starten.

 

Von da an wurden Mirranda und ihre zwei Jahre ältere Schwester zu unfreiwilligen Nomaden. Sie zogen von einer Familie zur nächsten und überall fühlten sie sich nicht zugehörig, ausgenutzt und immer ‘zu viel’. Mirranda erzählt von täglicher verbaler Gewalt, von offensichtlicher Ablehnung und von einer Vergewaltigung durch einen ihrer entfernteren Cousins. Der Cousin bedrohte sie mit den Worten: “Ukangotaura chete ndinokuuraya nemhuri yako” (Falls Du jemanden etwas erzählst, werde ich Dich und Deine Familie umbringen.)

In der Vorstellungsrunde, gleich zu Beginn des Kurses erzählte sie zum ersten Mal davon. Damals verschämt und mit zitternder Stimme. Auf der Dachterrasse, knapp drei Monate später, beschrieb sie erneut diese traumatische Erfahrung. Diesmal ganz ohne Scham, dafür aber mit Wut. Sie machte mir klar, dass sie es fortan nicht mehr verheimlichen wollte. Das verursachte eine mittlere Familienkrise, denn ohne den Namen des Cousins zu nennen, machte sie durch Social Media ihr Erlebnis öffentlich.

“Er kann mich nicht mehr töten, denn das kleine hilflose Kind von damals ist schon tot. Stattdessen lebe ich! Ich bin stark und ich weiß, mich zu wehren.”

Genau das nimmt man ihr ab, wenn man sie, wie bei den kanthari Talks auf der Bühne sprechen sieht. Sie ist für alle Zuhörer deutlich eine Überlebende. Stark, aber nicht verbittert, erzählt sie von dunklen, untröstlichen, aber auch von wunderschönen Zeiten. Als sie etwa neun Jahre alt war, kam ihre Mutter zurück, um sie und ihre Schwester mitzunehmen. Die Mutter hatte sich in einen Deutschen Expatriat verliebt und zum ersten Mal, allerdings nur für wenige Jahre, erlebten die beiden Kinder, was es bedeutet, einer geborgenen liebevollen Familie anzugehören. Der neue Stiefvater hatte einen Traum. Er wollte in Namibia ein Ökotourismus Camp aufbauen. Die Wildnis, der See, die Nilpferde und die nächtlichen Lagerfeuer unter dem Sternenhimmel war für ganze fünf Jahre ihr Zuhause. Dann aber wurde die Mutter schwer krank. Man brachte sie zurück nach Zimbabwe, wo sie schliesslich verstarb. Mirranda war gerade einmal 14 Jahre alt.

“Von da an wurden wir wieder von einem zum anderen verschoben. Hin und wieder lebte ich auch im Internat. Überall fühlte ich mich einsam.”

Irgendwann heckten die Geschwister ein Plan aus. Sie wollten zurück nach Namibia, zurück zu ihrem Stiefvater. Doch als sie ihn kontaktierten, fanden sie heraus, dass er sich nach dem Tod der Mutter das Leben genommen hatte.

“Am Ende wohnten wir bei unserem Großvater. Doch auch der hatte schon bald die Nase voll und warf uns hinaus. Das war unser Glück, denn jetzt konnten wir offiziell für uns selbst sorgen. Meine Schwester und ich mieteten ein Zimmer und zum ersten Mal hatten wir ein Zuhause.”

Und was entstand aus all ihren guten und schlechten Erfahrungen? In ihrer Rede während den kanthari Talks beschreibt sie ihr Traum-Projekt mit Namen “Khanya Africa”.

Sie richtet sie sich an Teenager, die sich wie sie selbst mit den Veränderungen mit ihrem eigenen Körper und von der Welt da draußen verlassen fühlen. Sie möchte besonders jugendlichen Mädchen dazu gewinnen, sich im Falle gefühlter Einsamkeit Hilfe zu suchen. Entweder professioneller Art oder sie können sich an Khanya Africa wenden.

 

Zur Erneuerung der Motivation und des Selbstbewusstseins, wird sie Workshops und Wildness-Camps organisieren. Sie möchte, dass viele Teenager ähnlich gute Erfahrungen mit der Wildnis haben, wie sie selbst und ihre Schwester damals in Namibia.

Ein deutscher Bekanter, Vater von zwei pubertierenden Jugendlichen, sah sie gemeinsam mit seinem älteren Sohn im kanthari talks Live-Stream. Der Sohn, der gerade durch eine Motivationskrise ging, war von ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Willensstärke und ihrer Offenheit so angetan, dass er sich überlegte, freiwillig ein Referat über Mirranda und ihr Leben in der Schule zu halten.

Und was ist aus ihren Ideen geworden?

Bereits Anfang dieses Jahres organisierte sie ihren ersten Khanya Workshop mit 14 Mädchen zwischen 9 und 20 Jahren.

Viele der Jugendlichen berichteten von ihren Emotionen, von ihren Ängsten nicht geliebt zu sein, von ihrer Sorge vor der Zukunft, aber auch von ihren Hoffnungen, selbst Lösungen für ihre Probleme zu finden.

Die 18jährige Ruvimba (Namen geändert) berichtete zum ersten Mal im Leben über erfahrenen sexuellen Missbrauch. Und genau wie Mirranda möchte sie kein Opfer sein, sondern anderen Kindern helfen, sich zu wehren.

“Sie wird sich bestimmt einmal für kanthari bewerben.” sagt Mirranda, und ich höre, wie sie sich freut, ein Glied in der kanthari Kette sein zu können.

Mirranda selbst erfuhr vom kanthari Programm durch Trevor, einem Absolventen von 2018, der sich mit seiner Organisation “Purple Hand Africa” für die unterdrückte und kriminalisierte LGBTQ-Gemeinschaft einsetzt. Gemeinsam kontaktierten sie Nancy, eine engagierte Initiatorin einer Schule und Teilnehmerin des 2022 kanthari Kurses. Nancy bot Mirranda Räumlichkeiten in ihrer Schule für ihren ersten Khanya Workshop an. So wird die Information über kanthari von einer Generation an die nächste weitergeleitet. Und langsam spinnt sich ein Netzwerk von engagierten Veränderern, Projektgründern und Initiatoren, eine Gemeinschaft, die wir damals so dringend benötigt hätten.

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