Neustart ins Leben

Puneet Singhal
2021 kanthari, Gründer von ssstart

In diesem Blog erzählt Ihnen Puneet Singhal, 2021 kanthari Teilnehmer, wie er in einem armen Viertel von Neu-Delhi mit einem Stottern aufgewachsen ist. Erfahren Sie wie ihn sei Mentor dazu inspirierte, eine Initiative zu gründen, die sich für Menschen mit Sprachstörungen einsetzt.

Eine Achterbahnfahrt als Lebensweg

Mein bisheriger Lebensweg war eine Achterbahnfahrt. Ich wurde in Neu-Delhi in der Sangam Vihar geboren, einer der größten nicht genehmigten Slum-Kolonien Asiens. Dort leben viele Menschen aus der Arbeiterklasse und ich litt dort oft unter der Armut. Selbst Trinkwasser und der Zugang zu Toiletten waren ein Luxus. Nach Angaben der Times of India stammen 90 % der Kriminellen im Süden Delhis aus diesem Viertel. Die Jugendlichen sind in alle möglichen illegalen Aktivitäten verwickelt und es gibt kaum erkennbare Möglichkeiten für sie. Die Zahl der Selbstmorde unter Jugendlichen ist wegen des Mangels an Beschäftigung stark angestiegen.

Ich hörte auf zu kommunizieren

Als Kind wurde ich zum ersten Mal Zeuge von Gewalt unter Erwachsenen. Ich fühlte mich verletzt und so betäubt, dass ich stundenlang an einem Ort stand, ohne einen einzigen Gedanken fassen zu können. Ich fühlte mich wie in Fesseln. Vorher hatte ich Angst, im Dunkeln zu sitzen. Jetzt fand ich Zuflucht in der Dunkelheit und habe aufgehört zu kommunizieren.

Die Schulbühne, auf der ich mich früher wohl gefühlt hatte, verwandelte sich in ein Schlachtfeld. Wenn mir eine Frage gestellt wurde, kamen meine Worte nicht mehr heraus. Eines Tages fing die ganze Klasse an zu stammeln: “Gu-gu-gu-guten Morgen”. Ich merkte, dass sie sich über mich lustig machten. Meine Klassenkameraden und ihre Eltern beschwerten sich sogar beim Schulleiter. Sie befürchteten, dass ich einen schlechten Einfluss auf sie hätte und sie alle zu Stotterern machen würde. Meine Mutter konnte nicht glauben, dass ihr Sohn, dessen Zunge so schnell wie ein Zug und so scharf wie eine Rasierklinge war, Probleme mit Sprechen hatte. Ich wurde ständig verspottet und verlor mein Selbstvertrauen völlig.

Das Stottern lindern

Ich wandte verschiedene Strategien an, um mein Stottern zu lindern. Ich suchte nach Alternativen für Wörter, bei denen ich normalerweise stecken blieb und reduzierte meine Aussagen auf ein Minimum oder kam zu spät, um mich nicht vorstellen zu müssen. Wenn andere versuchten, mir zu helfen, indem sie mich baten, langsamer zu sprechen oder meine Sätze zu beenden, wurde ich noch unsicherer. Und dann gab es da noch diese seltsamen und ziemlich gefährlichen Ratschläge, wie Asche von verbrannten Leichen zu lecken oder Alaun auf die Zunge zu reiben, bis die obere Schicht entfernt war.

Wenn ich zurückblicke, war meine Kindheit nicht einfach. Aber bereue ich es, gestottert zu haben? Nein. Es hat mich zu einem sensibleren Menschen gemacht. Ich fühle mich mit allen verbunden, die ihre Gedanken nicht ausdrücken können und sich danach sehnen, verstanden zu werden.

Funken der Inspiration

Der Austausch mit anderen Social Change Maker aus verschiedenen Kulturen, Ländern und mit unterschiedlichem Hintergrund regte mich zum Nachdenken an und eröffnet mir eine ganz neue Perspektive. Eines Tages sprach ich mit meiner Mentorin Sabriye Tenberken. Sie ist eine blinde, inspirierende Frau und Gründerin von kanthari. kanthari ist ein Führungsprogramm für Visionäre, die einen ethischen sozialen Wandel vorantreiben wollen. Ich erzählte ihr von meiner Teilnahme an der Jahreskonferenz der Indian Stammering Assoziation und wie diese zwei Tage mir geholfen haben, mein Stottern zu akzeptieren. Ich erkannte, dass es mich zu einem geduldigeren, einfühlsameren und bewussteren Menschen gemacht hat. Plötzlich unterbrach mich Sabriye und fragte: “Warum arbeitest Du nicht für Menschen mit Sprachstörungen?”. Diese Frage machte für mich so viel Sinn. Ich sah diese Idee als den Beginn eines neuen Abschnitts in meinem Leben und nannte ihn ‘ssstart’, denn so spreche ich das Wort Start aus.

Mit Sitz in Neu-Delhi wird ssstart ein Zentrum der Hoffnung sein. Durch spannende Workshops, Aktivitäten und Veranstaltungen soll die Wärme der menschlichen Kommunikation bei Menschen mit Sprachstörungen wiederbelebt werden. Wir werden interaktive Räume für Menschen jeden Alters, Geschlechts und Hintergrunds bereitstellen, um freie, verletzliche und geduldige Menschen zu werden. Unser Hauptziel bei ssstart ist es, authentische Kommunikatoren zu schaffen, die ihre Botschaft gründlich vermitteln und ein Gleichgewicht zwischen Sprechen und Zuhören schaffen.

Einschränkungen als Vorteil

Wir glauben, dass jede Einschränkung auch als Vorteil betrachtet werden kann, wir nennen es den “unfairen Vorteil”. Bei ssstart bemühen wir uns, Menschen mit verschiedenen Sprachstörungen wie Stottern, Lispeln, Sigmatismus (wiederholte Verwendung des “s” in jedem Wort) und Aphasie (Schwierigkeiten beim Zusammenfügen von Wörtern und Sprache) zu unterstützen, indem wir uns auf direkte und wahrheitsgemäße Kommunikation konzentrieren und dabei Sprachbehinderungen einbeziehen.

Außerdem setzen wir uns für eine Gesellschaft ein, die offen kommuniziert, kritisch denkt und Menschen schätzen und Geduld haben. So dass wenn wir, die Sprachgestörten, unsere Botschaften übermitteln wollen, die Nicht-Sprachgestörten zuhören, bis wir fertig sind, auch wenn es einige Zeit dauert. Das bedeutet auch, dass die Zuhörer unsere Sätze nicht beenden, wenn wir nicht weiterkommen.

Wir verdienen es gehört zu werden

Wir werden durch Aktivitäten wie Stand-Up-Comedy, Rappen und Straßentheater Humor beweisen. Wir werden beweisen, dass wir es verdienen, gehört zu werden und in die Gesellschaft zu gehören. Gelegentlich laden wir erfolgreiche Persönlichkeiten mit Sprachbehinderungen ein, um das Selbstvertrauen unserer Teilnehmer zu stärken und ihnen zu zeigen, dass auch sie ihre Träume durch ständige Übung und Entschlossenheit verwirklichen können. Wir bieten Workshops zu den Themen Körpersprache, öffentliches Sprechen und Gebärdensprache an. Zusätzlich holen wir auch Hilfe von erfahrenen Psychologen, für Menschen, die unter Traumata leiden und klinische Unterstützung benötigen.

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Konventionen zu hinterfragen, die unsere Existenz mechanisieren. Wir entwickeln Methoden für neue Wege der Kommunikation, die einfach und doch effektiv, langsam und doch dauerhaft, professionell und doch spielerisch sind. Los geht’s!

Sie können sich über Puneets Initiative auf der ssstart-Website informieren.

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