Tag 144 – Fit für die Zeit nach Corona

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari

Mein Anruf holte sie aus der Probe für eine Reality Tanz-Show, ein Tele-Wettbewerb, der in Kürze ausgestrahlt werden soll.

Bekannte Tanzpaare kommen aus ganz Nepal, um vor einem kritischen Fernsehpublikum gegeneinander anzutreten. Das Publikum entscheidet, wer rausfliegt und wer noch eine weitere Tanz-Einlage geben darf.

“Und wer ist Dein Partner?”, frage ich neugierig. “Sie lacht verschmitzt: “Mein Partner ist mein Blindenstock!”

Ich spreche mit Sristi KC, einer kanthari Absolventin von 2012. Sristi ist Tänzerin, Rednerin, Aktivistin, Abenteurerin, Motivatorin, Initiatorin und Sristi ist, wie ich auch, vollkommen blind.

2011 hatten Sristi, Paul und ich unser erstes „blind date“ in einer unserer Lieblingsbäckereien in Thamel Kathmandu.

Wir kamen gerade aus Tibet, und wie immer nach einigen Wochen nur Tsampa (tibetischer Gerstenbrei), Nudelsuppe und Buttertee, waren wir ausgehungert nach deftiger Kost. Es sollte mindestens ein fettes englisches Frühstück sein und bevor Sristi mit einer Freundin eintraf, hatten wir sehnsüchtig in den Gerüchen von Speck und gebratenen Tomaten ausgeharrt, um gemeinsam mit ihr zu frühstücken.

“Good morning, Sir, good morning, Madam“, kam ein schüchternes Stimmchen aus ihrer Richtung. Die Freundin schob sie an der Schulter zu unserem Tisch und sie bewegte sich vorwärts mit kleinen, unsicheren Schritten. Einen Blindenstock konnte Paul nirgendwo entdecken.

“Möchtest Du auch etwas essen?” fragten wir, um schnell zur Sache zu kommen. “Nein danke.” antwortete sie zögerlich.

Obwohl wir das Spiel – sag dreimal nein und einmal ja – aus Tibet kannten, waren wir so ungeduldig, dass wir beschlossen, sie wörtlich zu nehmen und da auch die Freundin nur mit dem Kopf schüttelte, bestellten wir nur für uns allein.

Später erinnerten wir drei uns an diese kleine Szene des Kennen-Lernens. Sristi machte sich über die Situation lustig. “Oh, was hatte ich damals für einen Hunger! Ich dachte nur: „Wie unhöflich von Euch, dass ihr mich nicht weiter fragt!”

Die Sristi von heute hat tatsächlich nicht mehr viel mit der von damals zu tun. Sie weiß jetzt genau, was sie will und sie hatte in der Zwischenzeit viele Möglichkeiten ihr klares “Nein!” und ein offensichtliches “Ja!” auszuprobieren.

Doch zunächst einmal ein Schritt zurück in ihre Geschichte.

Sristi war 16 Jahre alt, als sie bei einer Tanzvorführung im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verlor.

Vor allen Zuschauern tanzte sie ins Leere und fiel von der Bühne. Erst da begriff sie, sie konnte nichts mehr sehen.

Sehende können sich das kaum vorstellen. “Wie kann man nicht wissen, dass man nichts mehr sieht? Es muss doch dann einfach dunkel sein.” Doch als ebenfalls Späterblindete weiß ich ganz genau, wie schleichend der Übergang vom Sehen zu schemenhaftem Wahrnehmen und dann zur völligen Erblindung sein kann. Der immer aktive visuelle Cortex weiß einfach nicht genau, was da mit ihm passiert, denn wenn die Eindrücke nicht mehr über den Sehsinn kommen, warum sie nicht einfach von woanders herholen! Die Vorstellung, Blindheit sei immer gleichzusetzen mit vollkommender Dunkelheit, ist typisch für die Unwissenheit der Sehenden. Blindheit ist nicht einfach “Nicht-Wahrnehmen”, sondern “Anders-Wahrnehmen”.

Sristi würde mir ohne Weiteres zustimmen. “Ich sehe, auch wenn ich nichts sehe,” sagt sie immer wieder. Und ich „sehe“ die etwas ungläubigen Zuhörer, die vermutlich nur denken: “Ach was für ein tapferes junges Mädchen. Sie versucht das Beste aus ihrem schweren Schicksal zu machen!”

Aber da sind sie bei Sristi an der falschen Adresse. Sie ist weder “tapfer”, wie man vielleicht ein kleines Kind “tapfer” nennen könnte, dass trotz schmerzendem Knie die Zähne zusammenbeißt, noch fühlt sie sich gezwungen, positiv zu denken, wie manche es von ihr erwarten. Sie packt das Leben einfach von einer ganz anderen Seite an: Ja, zunächst glaubte sie den Tanzlehrern, die ihr abrieten, mit dem Tanzen weiter zu machen. Nachdem die vielen Augenärzte und Wunderheiler ihr nicht mehr weiterhelfen konnten, fing sie wieder an, zu studieren. Da sie keine Möglichkeit hatte, sich die Brailleschrift anzueignen, was sie heute sehr bedauert, ließ sie sich vorlesen, lernte alles auswendig und machte trotz dieser Schwierigkeiten einen hervorragenden Abschluss. Und dann kam sie an das kanthari-Institut, immer noch mit unsicheren Trippel-Schrittchen. Aus den Schrittchen wurden Sprünge und schließlich die Organisation “Blind Rocks”, eine Initiative, die blinde Menschen in der ganzen Welt auf die Tanzfläche und auf die Bühne bringen will. http://www.blindrocks.org/

Über “Blind Rocks” trainiert Sristi Blinde aber nicht nur im Tanz, sie fördert sie in Schauspiel, bietet Fashion Kurse an und organisiert Abenteuerreisen mit Rafting durch die wilden Flüsse Nepals. Später soll es auch mal Paragliding sein.

In der Zwischenzeit setzte sie in Norwegen, Ungarn und England ihr Tanzstudium fort, aber auch in diesen Ländern traf sie immer wieder auf Skepsis: „Wie soll ein blinder Mensch das Tanzen lernen! Versuchs doch mal mit Singen!” Darüber konnte sich Sristi nur wundern.

“No way!” erwidert Sristi und das “Nein!” kommt heute aus einer kraftvollen Persönlichkeit, die die Welt kennengelernt hat und die nicht so einfach aufgibt, wenn man ihr sagt, dass etwas nicht geht. Sristi nutzt jede Gelegenheit, die Einstellung gegenüber Blinden zu ändern und die Blinden selbst aus ihrer Lethargie ins Rampenlicht zu holen, selbst in Zeiten von Corona.

Wie viele andere nutzt sie in kreativer Weise online-Plattformen, um die sehende Umwelt weiterhin mit ihren teils provozierenden Ideen zu konfrontieren.

In zehn Schulen organisierte sie online ein Blind-Date. Sehende erleben hier Blindheit nicht als einen Mangel, sondern als Bedingung der Möglichkeit, Probleme zu lösen. Eine Fähigkeit, die wir alle während und auch noch nach der Corona-Krise brauchen werden. Und dann arbeitet sie mit nepalesischen Blinden, die irgendwo da draußen isoliert den Lockdown absitzen und keine Möglichkeiten haben, mal ins Schwitzen zu kommen.

„Fit für Post-Corona“, nennt sie ihren virtuellen Fitness-Kurs für Blinde. Es ist ein Videokurs, mit einem Trainer, der alle Bewegungen, die er macht, zugleich verbalisiert.

“Wie geht das”, frage ich ungläubig, denn es gibt nur wenige Menschen, die abstrakte Vorgänge gut auf den Punkt bringen können.

“Oh, kein Problem,” sagt sie und imitiert ihren Trainer: „Stellt euch einen Stuhl vor. Setzt euch, aber macht es euch nicht zu gemütlich und jetzt aufstehen, hinsetzen, aufstehen, hinsetzen. …”

Über Video werden die Blinden von Freiwilligen beobachtet und, falls sie etwas falsch verstanden haben, sich zum Beispiel den Stuhl zu genau vorstellen, greifen sie ein, um so unliebsame Überraschungen zu verhindern.

Heute muss Sristi selbst auf die Bühne. Der Tanzwettbewerb startet in genau zwei Wochen. Ganz Nepal wird vor dem Fernseher sitzen und die Juri spielen. Wir kennen das alle aus den vielen Talent-Shows. Ich frage Sristi, ob sie aufgeregt sei.

“Ach wo! Ich kenne doch meinen “Partner” und kann mich auf ihn verlassen!”

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