Tag 165 – Windelweisheiten!

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari

Wie sich die Wege der Wegwerfwindeln mit denen der Wasserhyazinthen kreuzen.

Es ist keine Bollywood Schnulze, keine Liebe auf den ersten Blick. Wir sprechen hier eher von einer Zwangsehe zwischen Wegwerfwindel und Wasserhyazinthe.

Bei so unterschiedlichen Heiratskandidaten werden die Leser und Leserinnen sich fragen, wie kann so eine Ehe funktionieren? Wo liegen die Gemeinsamkeiten?

Man muss nicht weit suchen: Gemeinsam ist ihnen der lange Weg vom Geburtsort auf dem Nord- und dem Südamerikanischen Kontinent bis hin zum Vellayani See, wo sich zurzeit während des Lockdowns die Konzept-Transformation vollzieht. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sich beide Kandidaten zu Wasser und zu Land breit machen und verheerende Umweltprobleme nach sich ziehen.

Dabei sind beide, individuell betrachtet zunächst einmal ansehnlich und durchaus sinnvoll.

Beide dienen in gewisser Weise der Hygiene. Die Wasserhyazinthe säubert mit ihren wollartigen Wurzeln das Frischwasser und die Wegwerfwindel sorgt für einen klinisch sauberen Baby Popo.

Eine interessante Parallele ist die steilanwachsende Kurve der Produktion wie auch der rapiden weltweiten Verbreitung.

Die Wasserhyazinthe ist ein Wachstumsgigant. Bei entsprechend feucht heisser Temperatur und genügend Nährstoffen im Wasser, verdoppelt sie ihre Masse in nur zwei Wochen. Sie gehört damit zu den am schnellsten wachsenden Pflanzen. Mittlerweile ist sie nicht nur in den Tropen zu finden. Auch in Europa und Nord Amerika verbreitet sie sich stetig.

Die Wegwerf-Windel steht der Wasserhyazinthe in Verbreitung und Vermehrung nicht viel nach. Betrug der globale Wert der Wegwerfwindel im Jahr 2015, 52 Milliarden us$, wird er für 2023 auf 90,2 Milliarden US$ geschätzt. 

Dabei drängen sich die Produzenten selbstbewusst auch in Länder, wie zum Beispiel China, die traditionell eine sehr viel umweltverträglichere Lösung bieten. Wie wir es mit Erstaunen in Tibet beobachten konnten, tragen die Kleinkinder dort praktische Schlitzhosen, die sich beim Hinhocken weit öffnen. Für das Konzept “Windel” gibt es, soweit ich weiss, noch nicht mal ein Wort im Tibetischen. Und dennoch scheint es den Konzernen zu gelingen, in China die Wegwerf-Windel als “unverzichtbar für die Intelligenz-Entwicklung des Kindes” zu positionieren. 

Windeln wie auch Hyazinthen nehmen die Umwelt kräftig in die Zange. So wachsen die Windel-Berge weltweit stetig an und die Wasserhyazinthen treiben unaufhaltsam vorwärts. Über weite Strecken auf Flüssen und Seen bilden sie licht-undurchlässige Matten, die alle anderen Wasserpflanzen absterben lassen. Sie verstopfen Kanäle und Hafenbecken und die starke Pflanzenfaser bilden auf dem Seeboden einen dicken Schlammartigen Untergrund, der alles Lebendige erstickt. Während also die Wasserhyazinthe für den ‚Schlammassel‘ unter Wasser verantwortlich ist, sorgt die Wegwerfwindel für Chaos auf dem Trockenen.

4’000 bis 6’000 Windeln braucht ein Baby, bis es Windelfrei auf die Toilette gehen kann. Die Zeit des Windeltragens erhöht sich zur Freude der Konzerne beträchtlich mit dem Gebrauch der Wegwerfwindeln, denn die super Saugkraft der Windelinnereien sorgen für einen Rundum Trocken-Komfort und es gibt für das Kleinkind keinerlei Anlass, sich vom Wickelstatus zu emanzipieren. Werden also hauptsächlich Wegwerfwindeln genutzt, produziert ein einziges Kind bis zu 700 Kilogramm unverwertbaren Restmüll, der 200 bis 500 Jahre für die biologische Zersetzung braucht. Machen wir uns mal nichts vor: Dank des uns von den Konzernen anerzogene Wegwerf und Hygiene-Wahns, hinterlassen wir unseren Kindern eine vollgeschissene Welt.

Der Windel-Wahnsinn wurde mir erst richtig bei der Erstbegegnung mit meiner gerade neugeborenen Nichte Mira bewusst. Ich war zunächst erstaunt, wie schnell so ein Wickelvorgang von Statten ging, bis ich plötzlich merkte, da wird gar nicht mehr ‘gewickelt’. Höschen aus und raus in den Müll und schnell ist das Kind wieder trocken und duftfrisch.

Und was passiert mit dem Müll? Nach Schätzungen beträgt der Windelmüll bis zu 3% des Alltagsmülls. Oder wie der Arte Dokumentarfilm *Wickeln, Windeln, wegwerfen” es etwas plastischer darstellt, man könnte allein in England, mit 3 Milliarden Wegwerfwindeln jährlich, acht Wembley Stadien füllen (den Link zum Dokumentarfilm finden Sie am Ende des Blogs). Recycling ist ausgeschlossen. So eine Windel enthält zu viel Chemie und unterschiedliche Materialien, die gar nicht richtig voneinander zu trennen sind.

Nun sind wir auf dem kanthari Campus sowohl mit Kompostierung wie auch mit der Produktion von Bio-Gas vertraut. Und wenn man sich nur auf den zusätzlichen Inhalt einer vollen Windel, also auf den probiotischen Baby Kot und auf das nährstoffreiche Urin konzentriert, dann schlagen die Herzen der Bio-Landwirte Purzelbäume.

Warum nicht also eine Windel entwickeln, die selbst noch als Abfall der Menschheit sowie der Umwelt dienlich ist? Wie kann man also aus bio-Abfällen kompostierbare Wegwerf-Windeln fabrizieren?

Und hier, man wird es schon geahnt haben, kommt die Wasserhyazinthe ins Spiel. Davon haben wir seit den Fluten von 2018 im Vellayani See mehr als genug.

Mein erstes Zusammentreffen mit der Wasserhyazinthe war eher bedrohlich. Gemeinsam mit Neerthadakan, einer lokalen Aktivistengruppe unternahmen wir eine Säuberungsaktion. Damals hatten wir noch nicht viel Erfahrung und Paul hatte bisher auch keine der bewerten Werkzeuge entwickelt, die den See im größeren Stil von den Invasoren befreien konnten. Daher versuchten wir die Pflanzenflut mit mindestens zehn Personen, durch blosse Körperkraft an Land zu drücken. Irgendwann befanden sich einige von uns mittendrin. Da hatte ich das erste Mal einen Eindruck, was es bedeutet Platz-Angst zu bekommen. Ich konnte die anderen kaum hören, denn überall rasselten und knirschten die spargelartigen Stängel so laut aneinander, dass jede Kommunikation ausgeschlossen war.

Die Wasserhyazinthe wurde zunächst von uns nicht ganz grundlos zur Pest, zum lästigen Feind degradiert, bis wir sie uns ein wenig genauer betrachteten.

Das Schöne an der Pflanze sind die dicken handförmigen Blätter. Sie thronen hoch oben auf Stängeln, die bis zu einem Meter aus dem Wasser Ragen und wenn sie in der Nachmittagsbriese hin und her schwingen, scheint es, als würden sie einem freundlich zuwinken. Die Blätter sind besonders nahrhaft und daher als Futter für freilaufende Hühner gut geeignet.
Die fleischigen Stängel werden in der Sonne getrocknet, aufgeschnitten und in dünne Faser zerlegt. Damit weben die Frauen in den umliegenden Dörfern weiche lederartige Körbe und Matten.

Uns interessierten aber vor Allem die unter Wasser bis zu einem Meter tiefhängenden braun-schwarzen Wurzeln. Da ich die Wurzeln bei den Säuberungen ständig in den Händen hielt, fiel mir auf wie weich und wollig sie sich anfühlten. Zieht man die Pflanze aus dem Wasser, sind es diese wolligen Wurzeln, die voll Wasser gesogen das gesamte Gewicht ausmachen. Diese Saugkraft der Wurzeln war es, die das Windel-Projekt in Gang brachte.

Gemeinsam mit Chacko experimentierten wir mit der Wolle. Mal wurde sie gezupft, mal gefilzt, mal gewaschen und dann wieder nur an der Sonne getrocknet. Und jedes Mal der Aufsaug-Test. Das Ergebnis: Sechs Gram gezupfte Wolle kann 40 ml Wasser aufsaugen.
20 Gram Wolle, die wir wahrscheinlich auch zum Ausstaffieren der Windel benötigen, können bequem bis zu 80 ml Wasser aufnehmen.

Vor einigen Wochen gesellte sich zum Windel Team, Riya Orison hinzu. Sie war Praktikantin während der Anfangsphase des Lockdowns und sie war, wie wir versessen auf See-Säuberungsaktionen. Als Projekt-Managerin machte sie unser Hobby zum Programm und nahm eine Feld-Studie in Angriff.

In einer streng abgetrennten See-ecke, untersuchen wir nun das Wachstum der Superpflanze und basierend auf unseren Experimenten, stellte Riya schon erste Windel-Prototypen her.
Es geht um eine Einlage, die hauptsächlich aus Wasserhyazinthenwolle besteht. Geklemmt wird diese Einlage in einen Windelhalter, der aus getrockneten Hyazinthen-Stängeln gewebt wird.

Die Ziele der Hyazinthen-Wegwerf-Windel sind klar umrissen:

-Keine Macht dem Umweltschmutz und keine Macht den Konzernen, die sich um die Umwelt bisher nicht groß kümmerten. 
-Kein Copyright, aber ein Recht, kopieren zu dürfen.
-V
ereinfachung des Produktionsvorgangs. Die Windel-Herstellung soll innerhalb von Minuten machbar sein.
-Sie muss hautverträglich und vollkommen biologisch abbaubar sein.
-Und sie darf, bis auf den mehrfach verwendbaren Windelhalter, so gut wie gar nichts kosten.

All dies ist machbar, besonders wenn die lokale Bevölkerung mitzieht. Es gibt bereits einige Frauen in den umliegenden Dörfern, die sich mit der Optimierung der Windelhalter beschäftigen.

Sobald die Einlage sicher im Windelhalter verstaut, und das Baby zufrieden ist, ist die Hochzeit vollzogen und wir können uns neuen Herausforderungen stellen.

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