dIst es richtig zu behaupten, dass Kulturen, in denen Tabus und Aberglaube einen grossen Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen haben, nicht bereit für demokratische Prozesse sind? Bereits im letzten Blogpost habe ich über Tabus in Thailand geschrieben. Aufgrund von aktuellen Veränderungen im romantisierten Ferienparadies, möchte ich heute an dieses Thema anknüpfen.
Wie ich im vorigen Blogpost erwähnt habe, gehen Tabus und Aberglauben oft Hand in Hand. Und doch gibt es klare Unterschiede. Hier zunächst einmal einige Beispiele für Aberglauben aus aller Welt:
Paul erklärte mir einen bekannten holländischen Leitsatz: «Schau niemals schlecht gelaunt in einen Spiegel während die Kirchenglocken leuten. Es könnte sein, dass dein Gesichtsausdruck für immer so bleibt.»
Ebenso absurd scheinen die Aberglauben, mit dem meine eigene Generation in Deutschland gross wurde: «Immer schön den Teller leer essen, es könnte sonst schlechtes Wetter geben» oder «Es bringt Unglück vor dem Geburtstag zu gratulieren».
Und aus Thailand: «Wenn eine schwangere Frau unter dem Bauch eines Elefanten durchkriecht, wird sie eine leichte Geburt haben» oder «Unterschreibe nicht mit einem roten Stift, das könnte dein eigenes Todesurteil bedeuten».
Aberglauben ist weltweit ein alltägliches Gesprächsthema. Wir machen uns beharrlich auf unsere schrillsten Glaubenssätze aufmerksam. Wir belächeln sie zwar, aber bleiben ihnen grundsätzlich doch hörig.
Im Unterschied zum Aberglauben wird aber ein Tabu belegtes Gesprächstthema von der Konversation ausgeschlossen. Damit wird entweder die Existenz eines Sachverhaltes verleugnet oder es wird untergründig und durch die gezielte Weglassung Angst erzeugt. Die Harry Potter Fans kennen sich da bestens aus. Der das böse verkörpernde Zauberer “Lord Voldemort”wird von den Ängstlichen Zauberern und Hexen, natürlich niemals vom Helden Harry, nur als “der, dessen Name nicht genannt werden darf” bezeichnet.
In meiner Beschäftigung mit dem Protest in Thailand, treffe ich tatsächlich auf Romanfiguren wie Harry Potter und seinen Gegner Lord Voldemort. Sie verkörpern Rollen, die als Symbole für die Demokratie genutzt werden. Aber in Thailand steht “der, dessen Name nicht genannt werden darf” für Maha Vajiralongkorn. Bei Maha Vajiralongkorn handelt es sich aber keinesfalls um einen fiktiven Zauberer, sondern um den Sohn und Thronfolger des 70 Jahre regierenden Königs Bhumibol. Bhumibol war bei den Thais zwar gefürchtet, wurde aber auch durchaus geschätzt. Sein Thronfolger ist aber wegen seiner eher pubertären Eskapaden und der harschen Regression aller Kritik in seinem eigenen Volk eher unbeliebt.
Interessant ist, dass das Thailändische Königshaus als oberster Wächter der vielen Tabus gilt, sein neuer höchster Amtsinhaber aber zu einem der berühmtesten Tabubrecher überhaupt gehört. Und das scheinbar nicht aus Rebellion oder philosophischer Einsicht, sondern weil er glaubt, über allem erhaben zu sein. Der Trohnfolger residiert mehrheitlich im Süddeutschen Tutzing, wo er eine Villa am Starnberger See, gleich neben dem bekannten Schlagersänger Peter Maffay, bewohnt. Seine Tabubrüche gehen auch dort den zwar lustigen, aber doch teilweise recht spiessbürgerlichen Bayern auf die Nerven. So entrüstet man sich in der Presse darüber, dass seine Majestät in aufreizend leichter Bekleidung Fahrrad fährt oder die Zugspitze erklimmt. Aus diplomatischen Kreisen erzählt man sich Geschichten über des Königs Pudel Fufu. Der kürzlich verstorbene königliche Schosshund wurde einst zum General der Luftwaffe ernannt und hatte die Angewohnheit, im extra angefertigten Smoking, auf die festlich gedeckten Tafeln der Staatsbankette zu springen und ungefragt aus den Tellern der verstörten Botschaftern zu speisen.
Man könnte sich über so viel Exzentrik amüsieren, doch die Situation ist ernst. Ja, für Thais, aber auch für in Thailand lebende Regime Kritiker, ist das sich lustig machen über derartige Eskapaden sogar gefährlich. Jede Kritik am Königshaus, und sei es auch nur harmloser Spott, kann mit bis zu 15 Jahre hohen Haftstrafen belangt werden.
Vor diesem besonderen Hintergrund kommt der diesjährige Protest der jungen Thailänder, trotz vergleichbar bescheidener Demokratie-Forderungen, einer geschichtsträchtigen Revolution gleich.
Vier Interessensgruppen haben sich zu einem grossen Protest zusammengeschlossen. Es sind überwiegend Studenten, die sich nicht mehr scheuen, Tabus zu benennen und damit kritisch zu hinterfragen. Sie machen sich für freie Meinungsäusserung, freie Wahlen und für ein demokratisches Thailand stark. Die jungen Frauen die sich, angeregt durch die in den letzten Jahren aktiv gewordenen Frauenbewegungen in Chile, gegen physische und sexuelle Gewaltexzesse wehren. Das Chilenische Protest Lied “El violador eres tu!” (Der Vergewaltiger bist Du!) wurde ins Thailändische übersetzt und damit die Polizei, das über allen stehende Militär und jegliche Staatsgewalt musikalisch angeklagt. Dann gibt es noch die Lesben, Schwulen und die Transgender Bewegungen, die für gesellschaftliche Akzeptanz und die gleichgeschlechtliche Ehe kämpfen, die Sex-Arbeiter und Arbeiterinnen fordern nichts mehr als Legalität und die Kinder gehen für mehr Selbstbestimmtheit in den Schulen auf die Strasse.
Mit dem Hashtag #wozubrauchenwireinenKönig, fordern sie eine grundlegende Reform des Königshauses. Es geht ihnen dabei um mehr finanzielle Kontrolle des reichsten Königs der Welt und besonders auch um die Abschaffung des Paragraphen 12 im Thailändischen Strafgesetzbuch. Der Paragraph, der die Majestätsbeleidigung unter hohe Freiheitstrafe stellt.
Während unserer langjährigen Zeit in der tibetischen autonomen Region, haben wir gelernt, dass Menschen in nicht-demokratischen Strukturen sehr geschickt zwischen den Zeilen kommunizieren können. Statt das Unaussprechliche zu benennen, spricht man in kodierten Sätzen, man zeigt Alltagsgegenstände, die plötzlich zu Symbolen werden und man entwirft spezielle Handzeichen oder Phantasienamen, die geschickt in eine Konversation, in einen Liedtext oder in eine scheinbar alltägliche Botschaft hineingestreut werden. Diese geheime Sprache verändert sich ständig. Denn sobald der lauschenden Obrigkeit auffällt, dass sie aus wichtigen Zusammenhängen ausgeschlossen wird, macht sie sich bemerkbar und stellt das neu erfundene Symbol oder den gerade entwickelten Phantasienamen unter Strafe. So geschah es bei uns in Tibet immer mal wieder, dass man uns über Mitarbeiter zu verstehen gab, doch bitte dieses oder jenes Thema beim Namen zu nennen. Man könne unserer privatgeführten Konversation sonst nicht mehr folgen.
Auch unter den kritischen Thailändern bedient man sich einer dynamischen Geheimsprache. Hier sind es besonders die Künstler, die kontinuierlich neue Symbole erschaffen. So werden Papierflugzeuge aus Gesetzestexten gefaltet und Skulpturen von Dinosauriern als Zeichen von veralteten Strukturen vor Regierungsgebäuden aufgestellt. Zudem leiht man sich aus der mehrteiligen Filmreihe “The Hunger Games” (Die Tribute von Panem), den Drei-Finger Gruss, der im Original eigentlich nicht viel mehr als eine Geste des Dankes oder zur Verabschiedung eines verehrten Mitbürgers gebraucht wurde. Heute strecken die Protestler den Drei-Fingergruss der vorbeifahrenden Kolonne der Königsfamilie entgegen. Und obwohl die Filmreihe und damit auch der Gruss erst seit 2012 existiert, wird diese spezielle Geste bereits heute als kritische Provokation unter Strafe gestellt. Und schliesslich gibt es die aufblasbare gelbe Gummiente. Ursprünglich galt sie den Kindern als Körperschutz gegen die Wasserwerfer, jetzt aber wurde die gelbe Gummiente zu einem neuen knalligen Symbol für die Demokratie Bewegung ernannt. Es wird sicherlich nicht mehr lange dauern bis das Spielzeug auf dem Index verbotener Objekte landet.
Gemeinsam gehen junge und mehr und mehr ältere Menschen gegen die zum Teil nun gesetzlich verankerten Tabus vor. Dabei verlässt sich die Generation, die mit Facebook und Twitter grossgeworden ist, keineswegs mehr auf das Internet und die sozialen Medien.
Heute müssen die kritischen Denker zusehen, wie Facebook zum Handlanger von undemokratischen Mächten wird und ein Facebook Account nach dem anderen vom WORLD WIDE WEB verschwinden lässt. Das geschieht, obwohl es sich bei diesen Facebook Seiten um nichts anderes als um die Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte und um den Wunsch nach Demokratie handelt.
“Das Internet war mal unser Tor zur Freiheit.” schreibt mir eine bekannte Aktivistin. “Aber heute ist es ein Werkzeug der Kontrolle!”