Von 226 kanthari Absolventen, haben wir in den letzten Wochen weit über hundert soziale Veränderer in mehr als vierzig Ländern kontaktiert. Obwohl sich alle mit der gleichen Krise auseinandersetzen müssen und ähnliche Restriktionen wie mehr oder weniger rigorose Ausgangssperren und Mangel an Nahrungsmitteln erfahren, ist es doch erstaunlich, wie unterschiedlich jeder Einzelne auf die Veränderungen reagiert.
Da gibt die Einen, die leicht resignieren, sich durch die täglichen Katastrophenberichte wie paralysiert fühlen. Es sind diejenigen, die, wenn es ernst wird frustriert den Kopf einziehen und lieber warten bis alles vorbei ist. Wir nennen sie auch, die “Schildkröten”. Das Gute an “Schildkröten” ist, dass sie geduldig sind, und wenig zum Überleben brauchen. Der Mangel an Klopapier, Nudeln oder Mehl wäre für sie kaum ein Thema. 🙂
Dann gibt es die Wachsamen, oft auch Ängstlichen. Das sind für uns die “Hühner”, die bei jedem Picken schnell um sich her gucken, ob nicht von irgendwoher eine Gefahr drohen könnte. “Hühner” sind trotz ihrer Ängste aber auch neugierig, sie wollen alles wissen, um sich besser schützen zu können.
Und dann, unter kantharis nicht so selten, die Hamster, die in Krisenzeiten erst einmal kopflos herumrennen und wenig oder gar nicht reflektieren. Das sind die Überaktiven, die nicht lange nachdenken, sondern sofort Aktionen unternehmen. Das Gute an Hamstern ist, sie sind wunderbare Starter, allerdings eher schlechte Planer.
Schließlich gibt es die Falken, die sich zunächst einen guten Überblick verschaffen bevor sie richtig loslegen. Einer dieser “Falken” ist Samuel Odwar aus dem Norden Ugandas. Er ist kanthari Absolvent aus 2014 und gründete nach seiner Rückkehr die Organisation “Thumbs Up”, (Daumen hoch) eine Initiative, die für eine offene, behindertenfreundliche Gesellschaft kämpft.
Samuel erlebten wir zunächst als nachdenklichen Beobachter. Wir kannten nur Teile seiner persönlichen Geschichte, die im Norden Ugandas vom Bürgerkrieg geprägt war. Zu Beginn des kanthari Programms stellen alle Teilnehmer ihre Projektinitiativen vor. Erwartet wird eine zehnminütige Rede, in der das Problem, die eigene geplante Intervention und der persönliche Bezug beleuchtet werden soll.
Samuel war einer der letzten Redner und ich weiß noch, wie wir alle zunächst ein wenig ermüdet von den unterschiedlichen Ideen und Lebensgeschichten, die Rederunde zu einem schnellen Ende bringen wollten. Doch dann begann Samuel. Erst still, abwartend, wie wir ihn alle kannten. Dann plötzlich explodierte es, seine Lebensgeschichte wurde zum Crescendo und das Auditorium war mit knisternder Spannung erfüllt.
Um die wesentlichen Punkte seiner Geschichte zusammenzufassen, möchte ich hier nochmal einen kleinen Auszug aus meinem letzten Buch zitieren:
„Es war das Jahr 1999, ein Jahr, in dem der bereits schwelende Krieg zwischen der LRA, der Lord’s Resistance Army, und der staatlichen UPDF, der Uganda People‘s Defense Force, eine neue, brutale Stufe erreichte. Joseph Kony, seit 1994 Führer der Rebellenarmee LRA, wütete mit seinen Truppen im Norden Ugandas, besonders in den Gebieten des Acholi-Stammes. Er selbst ist ein Acholi, und alle Acholis, die sich nicht für seine Zwecke rekrutieren ließen, wurden als Verräter angesehen. Sie wurden vergewaltigt, gefoltert, verstümmelt, getötet. Wer sich den Rebellen widersetzte, dem schnitt man Lippen, Hände oder Ohren ab. Konys Hauptinteresse galt allerdings der Massenentführung von Kindern. Zunächst waren es Teenager, 12- bis 16-jährige Jungen und Mädchen, die den Kommandeuren in den Camps als Träger und Sexsklaven dienten. Bei Überfällen oder in Schlachten mit der Regierungsarmee wurden sie als Mörder, Soldaten und Kanonenfutter eingesetzt. Später bevorzugten sie noch kleinere Kinder, besonders die 8- bis 13-jährigen, denn Kinder sind formbar, man kann sie leicht beeinflussen und zu jeder Tat anstiften.
…
Samuel war 17 Jahre alt, als seine Region von den Rebellen überfallen wurde. Die meisten Rebellen stammten aus den nordugandischen Provinzen Gulu, Kitgum und Pader. Und 90 Prozent der Truppen Konys sollen aus minderjährigen Kindern bestehen. …
Die Rebellen kamen meist nachts, sie überwältigten die Landbevölkerung im Schlaf. Sie zündeten Hütten an und zwangen so die Familien rauszukommen. Dann nahmen sie sich diejenigen, die sie für ihre Armee gebrauchen konnten.
“Ich weiß noch genau, es war in einer Nacht zum Montag. Ich war in meinem letzten Semester (des Lehramtsstudiums), und übers Wochenende nachhause gefahren. Wir, meine Brüder und ich spielten Fußball, bis es dunkel wurde. Dann rief uns meine Mutter, wir sollten doch besser reinkommen. In dieser Nacht teilte ich mir eine Hütte mit sieben meiner jüngeren Brüder. Es war schon spät, als ich durch ein ungewohntes Geräusch aufgeweckt wurde. Wir waren seit einiger Zeit durch Schreckensgeschichten aus Nachbardörfern und durch Warnungen im Radio alarmiert. Und irgendwie wusste ich genau, was da draußen vor sich ging. Mit dem Gedanken, ich könne die Fremden von uns ablenken, schlich ich mich raus und schloss die Tür von außen ab.
Dann bin ich in Deckung gegangen. Und tatsächlich: Obwohl es stockdunkel war, konnte ich etwa fünf Männer erkennen, die sich leise an unsere Hütte heranschlichen. Als sie versuchten, die Tür zu öffnen, habe ich sie angesprochen. Ich wollte sie davon überzeugen, dass sie mit mir Vorlieb nehmen müssten, denn es sei sonst niemand in der Hütte. In diesem Moment riefen meine Geschwister nach mir. Die Rebellen wurden wild. Sie zwangen mich, die Hütte aufzusperren, und dann nahmen sie uns alle gefangen. Das Ganze ging rasend schnell und fast geräuschlos vonstatten. Sie befahlen uns, keinen Lärm zu machen, sonst würden sie uns erschießen.
Da ich der Älteste war, wurden meine Arme gefesselt. Wir wurden zu einer großen Gruppe von anderen Kindern gebracht. … Und dann mussten wir laufen. Drei Tage und drei Nächte, fast ununterbrochen. Es ging immer durch den Busch. Das Ziel war die südsudanesische Grenze. Gegessen haben wir das, was in den Dörfern oder auf den Feldern geplündert wurde. Schlafen konnten wir nur, wenn wir mal eine Essenspause machten. Manche fielen vor Müdigkeit einfach um und wurden dann von den Kommandeuren wachgeprügelt.”
Samuel hatte aufgrund der Fesseln wenig Bewegungsfreiheit, daher sorgten seine Brüder dafür, dass sie zunächst tagsüber und besonders auch nachts immer dicht bei ihm blieben. So konnten sie sich austauschen und Fluchtpläne schmieden. Es waren so viele Kinder, dass die Rebellen Schwierigkeiten hatten, alle unter Kontrolle zu halten. Viele konnten schon während des Marsches entkommen. Auch Samuels Brüder waren in der Lage, früh zu fliehen. Mal verschwand einer beim Feuerholzsammeln, ein anderer trickste die Bewacher beim Wasserholen aus. Die meisten aber flohen in der Nacht, im Schutz der Dunkelheit.
…
Unterwegs kamen sie durch Dörfer, die ausgeplündert, zum Großteil niedergebrannt und von den Einwohnern verlassen worden waren. Nur Alte und Behinderte hatte man zurückgelassen. Diese Menschen dienten der LRA als „Trainingsobjekte“. An ihnen sollten die entführten Kinder zu “Mordmaschinen” ausgebildet werden. Um die Hemmschwelle zu senken, sollten sie die Behinderten nicht einfach “nur” erschießen, sie sollten sie mit den Macheten und Äxten erschlagen. Wer sich weigerte, hatte mit Folter oder dem eigenen Tod zu rechnen.
“Ich habe beobachtet, wie Kinder aus nackter Angst und mit Ekel vor der eigenen Tat die Befehle befolgten. Irgendwann war ich an der Reihe. Es war eine gelähmte, vor Hunger sehr schwache Frau, die ich mit der Axt erschlagen sollte. Ich konnte nicht, und ich weigerte mich. Ich wusste, jetzt ging es mir an den Kragen. Ein Kommandeur gab einem der Jugendlichen ein Gewehr und den Befehl, mich zu erschießen. Er ging mit mir in den Wald. Ich wartete auf den Schuss. Aber nichts passierte. Er sagte nur: ‚Ich kenne deinen Vater. Sieh zu, dass du hier wegkommst.‘ Dann rannte ich, und er schoss. Der Schuss verletzte mich am Fuß, sodass ich unterwegs eine Menge Blut verlor.” Teil 2 Morgen…