Teil 2 von Sabriye Tenberken
“Es liegt an den Armen selbst, eine Welt zu schaffen, die von aller Armut befreit ist. Alles, was wir tun müssen ist, sie von den Ketten zu befreien, die wir ihnen auferlegt haben.”
– Muhammad Yunus, Ökonom und Friedensnobelpreisträger aus Bangladesh
Alles, was man von Muhammad Yunus zu lesen bekommt, wirft vor dem Hintergrund der eigentlichen Mikrofinanz-Praxis viele Fragen auf:
– Was meint er mit “Ketten”?
– Wen meint er mit “wir”? Und wer hat die Ketten auferlegt?
– Wie sollen die Armen in der Lage sein, sich selbst eine armutfreie Welt zu erschaffen?
Während ich im ersten Teil, in Kapitel 1. die Mikrokreditvergabe als mögliche Chance beleuchtet habe, werde ich mich in diesem Blogpost mit den wahrscheinlichen “Ketten” befassen, der Verschuldung der Armen und Kredit als Grundrecht.
Nach Muhammad Yunus sollte jede Person ein Grundrecht auf Kredit haben. Man kann das auch anders interpretieren: Schulden machen ist ein Menschenrecht. Klar, keine Frage, aber nur dann, wenn jeder, genau wie die Banken während der Weltwirtschaftskrise, durch staatliche Subventionen aus dem Sumpf gezogen wird. Wieso sollte man sonst das Risiko wagen, einen dargebotenen Kredit anzunehmen. Doch bei Muhammad Yunus und der Grameen Bank werden Subventionen und Zuschüsse aller Art als Almosen angesehen und sind daher strikt ausgeschlossen. Während also die verschuldeten Banken in Wirtschaftskrisen Trittleitern angereicht bekommen, traut man den Armen zu, sich selbst helfen zu können. Mikrokredite werden schließlich als Hilfe zur Selbsthilfe gehandelt.
Ich möchte es genauer wissen und erinnere mich an einige kanthari Absolventen, die aus armen überschuldeten Familien kommen. Sie empfanden die Mikrokredite als Strangulierung ihrer gesamten Familie. Da ist zum Beispiel Cavin aus Kenia, Gründer von Wa-Wa, einer “Fisherwomen Akademie”. Er war im gleichen kanthari Jahrgang wie Selassie, dem Mikrokredit-Befürworter, dem ich im letzten Blog eine Stimme gab. Cavin gehörte in unseren Debatten zu den leidenschaftlichen Kritikern. Er selbst kannte die Seite der Kreditnehmenden nur allzu gut. Seine Mutter hatte damals vier Kinder zu versorgen. Dafür verkaufte sie Fisch auf dem Markt. Doch um den Fisch zu bekommen, musste sie den Fischern sexuelle Dienste anbieten. Durch das Phänomen “Sex for Fish” erlangte Cavins Heimatregion Homabay County am Victoria See, traurige Berühmtheit. Viele Frauen wurden HIV positiv, starben und hinterließen Waisenkinder. Auch Cavins Eltern starben und er überlebte zwei Jahre als Straßenjunge, bevor er von einer kinderlosen Dame als Pflegekind in ihr Haus geholt wurde.
Heute kämpft Cavin für die Würde der Frauen seiner Region. Durch seine Fisherwomen Academy, möchte er den Müttern den direkten Zugang zu der Ware Fisch ermöglichen. Bei ihm lernen sie alles über die Fischerei, von Netzeknüpfen, Bootebauen, Fischfang auf dem Viktoria See, bis zur Fischzucht in selbstgebauten Teichen. Mikrokredite sind nicht Bestandteil des Wa-Wa Programms. Er setzt auf intensives Training, auf innere Motivation sowie auf Werterschaffung durch Arbeit. Cavin schilderte während unserer Diskussionen über Mikrokredite eindrücklich, wie seine Mutter aus purer Verzweiflung das Angebot von Kreditgebern annahm. Doch jedes mal, wenn der Zahltag sich näherte, stand die gesamte Familie unter Stress. Er erinnert sich, wie die Verleiher zu ihnen nach Hause kamen, lauthals die Schulden einforderten und schließlich, da kein Geld vorhanden war, das gesamte Bettzeug, alle vorhandenen Kochutensilien und sogar die einzige Milchkuh als Rückzahlung mitnahmen. Er sagt dazu: “Schulden zu haben bedeutete für uns Scham und noch tiefere Armut, aus der wir nicht mehr herauskamen.”
Cavins Erfahrungen decken sich mit denen von Tony Joy, einer kanthari Absolventin von 2017. Sie ist Gründerin von Durian, einer Hilfsorganisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Armut in abgelegenen Gebieten Nigerias zu reduzieren. Bei ihrer Initiative geht es um “Waste to Value”. Zum Beispiel wird Bambus, ein in Nigeria als wertlos angesehenes Gewächs, als Werkmaterial für den Bau von Möbeln, Konstruktion von Gebäuden sowie für die Herstellung von Geschirr und Besteck genutzt. Auch sie bildet die Mitglieder der Gemeinde sowohl im Handwerklichen als auch in der Business-Administration aus. Doch von Mikrokrediten als Startfinanzierung hält sie nichts.
Sie sagt: “Es ist die Scham sich zu verschulden und die Angst vor dem gesellschaftlichen Ausschluss, die alle davon abhalten sollte, in die Kredit-Falle zu tappen.” Tony Joy weiß, dass Familien sich dazu gezwungen sehen, ihre Töchter an Gläubiger zu verkaufen.
4. Hinter dem schönen Schein
Trotz alledem war selten die Lösung zur Armutsbekämpfung so „sexy“! Laut Muhammad Yunus verbannen Mikrokredite die Armut ins Museum, sie fördern die Emanzipation der Frauen und sie helfen uns Gutes zu tun, ohne Opfer bringen zu müssen. Oder noch besser: Sie sorgen dafür, dass alle Beteiligten reicher werden. Messbare Indikatoren für den Erfolg der ‚Wunderwaffe‘ sind die hohen Rückzahlungsquoten von 95-100%. Denn wer den Kredit zurückzahlen kann, muss es ja geschafft haben! Oder etwa nicht?
Interessant ist, dass sich die meisten Kreditgeber mit einigen wenigen Erfolgsgeschichten zufrieden zu geben scheinen. Sie wollen aber nicht im einzelnen wissen, wie sich das Leben der Kreditnehmenden grundsätzlich verbessert hat und wie sich die Armut auf wundersame Weise reduziert haben soll. Schließlich strahlt über alledem der Friedensnobel Preis, der sowohl an Yunus als auch an die von ihm gegründete Grameen Bank vergeben wurde. Das Ergebnis wird schon irgendwie ‚stimmen‘.
Wer allerdings mehr wissen will, braucht nicht lange zu graben, man wird schnell fündig. Durch die Autoren und Journalisten Kathrin Hartmann und Gerhard Klas sowie durch den Dokumentarfilm “Microdebts” stößt man unweigerlich auf den renommierten Wirtschaftswissenschaftler Anu Muhammad, ein Landsmann und Kritiker Muhammad Yunus. In einer Studie der Jahangirnagar Universität zeichnet er ein ganz anderes Bild. Da heißt es: Lediglich 5-10% der Kreditnehmenden haben mit Hilfe der Mikrokredite den Sprung aus der Armut geschafft. 50% leben so arm wie zuvor und 40% haben sich, nachdem sie einen Kredit angenommen haben, sogar in ihrem Lebensstandard verschlechtert. Auch Anu Muhammad hält die hohe Rückzahlquote für wahrscheinlich. Nur verschließt er die Augen nicht vor der Tatsache, dass eine Rückzahlquote nicht mit einer Erfolgsquote gleichzusetzen ist.
Im vorhergehenden Blogpost habe ich die MFI, die Mikro-Finanz-Institute erwähnt. Es handelt sich oft dabei um ehemalige Non-for-Profit, Nicht-Regierungsorganisationen, die sich, angelockt durch die Heilsversprechen der hohen Renditen, plötzlich zu Mikrobanken transformieren. Der Unterschied: Während normale Kunden zur Bank ins nächste Dorf marschieren müssen, kommt diese Bank direkt zu den Kreditnehmenden nach Hause. Die Frage ist, was ist die größere Bedrohung?
Der Preisgekrönte Dokumentarfilm “Microdebts” von Tom Heinemann, zeigt durch einige Beispiele aus Bangladesh, Mexiko und Indien klar auf, wie die Mitarbeiter der MFI, meist Männer, mit ihren Motorrädern vor den Hütten der überwiegend weiblichen Kreditnehmerinnen aufkreuzen und nun lautstark die überfällige Zahlung fordern. Da die MFI laut Gerhard Klas keiner Pfändungsgrenze unterliegen, haben sie alle Möglichkeiten, die Schuldnerinnen durch die Androhung der Pfändung essentieller Güter unter Druck zu setzen. Im Dokumentarfilm beschreibt eine Frau aus Bangladesch weinend, wie man ihr das Wellblechdach abmontiert hatte. Andere werden dazu aufgefordert, Hühner, Ziegen, Lebensmittel und sogar das Stückchen Land, das sie bebauen, in Zahlung zu geben. Um sich diesen Angriffen zu Wehr zu setzen, sorgen die Kreditnehmenden dafür, das eine Schuldenloch mit neuen Krediten oder sogar Privatanleihen von Verwandten oder Nachbarn zu stopfen. Oft können sie so lediglich, die überhöhten Zinsen von über 30% abzuzahlen.
Auch in Nigeria sind die Praktiken der MFIs fragwürdig. Laut dem Dokumentarfilm “Microdebts” bietet die MFI LAPO Kredite mit Zinsen von bis zu 100%. In Andhrapradesh, einem Staat im Süden Indiens, sollen MFI Mitglieder selbst vorgeschlagen haben, die Töchter zur Prostitution zu schicken und man gab den Rat, sich das Leben zu nehmen, dann würden die Kredite von der Versicherung bezahlt werden. Oder, falls man sich durch die Verschuldung im Dorf unbeliebt gemacht hat, gibt es ja noch die Kredithaie, die Muhammad Yunus eigentlich durch die MFI verbannen wollte. Nun aber haben die das große Los gewonnen, denn wenn niemand sonst ihnen aus der Patsche hilft, können sie endlich wieder zum Zuge kommen und den Bedürftigen einen neuen Kredit mit über 100-300% Zinsen, gewalttätiger Rückholgarantie eingeschlossen, anbieten.
Und dann 2010 – das große Erwachen. In nur zwei Monaten nahmen sich im indischen Bundesstaat Andhrapradesh über 50 Schuldnerinnen von Mikrokrediten das Leben. Jetzt erst wurde die Praxis der Kreditgeber und die Werte des sozialen Business in Frage gestellt, und man musste zugeben, dass es keinen Beweis dafür gab, dass Mikrokredite nachhaltige soziale Veränderungen zur Folge haben.
In einigen Ländern unternahm man drastische Maßnahmen. Selassie, der Mikrokredite-Befürworter, steht hinter den neuen strengen Regeln in seinem eigenen Heimatland. Er erwähnte in unserem Gespräch, dass die Regierung in Ghana kürzlich mehr als 300 MFI geschlossen habe. “Die MFI haben ihre Machtposition missbraucht. Sie haben Frauen in den Ruin getrieben und dabei die positiven Ansätze einer mit Sorgfalt betriebenen Kreditvergabe in ein schlechtes Licht gerückt.”
Was bleibt übrig? Der Fokus auf die Emanzipation der Frau?Im nächsten Blog werde Ich mich mit dem Thema Mikrokredite als vermeintliches Mittel zur Frauenförderung befassen. Und ich beschäftige mich mit einer fragwürdigen Sonderform der Mikrofinanzierung, dem Microfranchising.