Tag 319 – Mikrokredite, Verheißung oder Geschäft mit der Armut?

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari
 

– Eine mehrteilige Auseinandersetzung mit Befürwortern und Kritikern des Mikrofinanzwesens, Teil 3

von Sabriye Tenberken

Nachdem ich in den ersten zwei Blog-Einträgen, in Kapitel 1 bis 4 die Chancen und Herausforderungen der Mikrofinanzierung beleuchtet habe, interessiert mich in diesem Blog das Motiv der Kreditgeber und ihr Geschäftsmodell: die Mütter als Zielgruppe.
 
5.    Muttergefühle als Rückzahlgarantie
“Wenn eine mittellose Mutter beginnt ein Einkommen zu verdienen, kreisen ihre Erfolgsträume immer um ihre Kinder. Die nächste Priorität einer Frau ist der Haushalt. Sie will Utensilien kaufen, ein stärkeres Dach bauen oder ein Bett für sich und ihre Familie finden. Ein Mann hat ganz andere Prioritäten. Wenn ein mittelloser Vater ein zusätzliches Einkommen verdient, richtet sich seine Aufmerksamkeit auf sich selbst. So bringt Geld, das über eine Frau in einen Haushalt kommt, mehr Vorteile für die ganze Familie.” – Muhammad Yunus, Ökonom aus Bangladesh, Gründer der Grameen Bank und Träger des Freidensnobelpreises.
 
Die Fragen, die sich mir in den letzten Wochen, in denen ich mich mit der Mikrofinanzierung und ihren Konsequenzen auseinandersetze, stellen:  sind Mikrokredite ein Mittel, Frauen zu emanzipieren oder bewirken sie das Gegenteil, nämlich die Manifestierung der Geschlechterungerechtigkeit?
Aber fangen wir mal von vorne an:
Warum bevorzugen  männliche Kreditgeber eigentlich Frauen als Kreditnehmende?

„Ist doch klar“, würde der  Mikrobänker vorbringen, “es geht uns um die Emanzipation der Frau! Denn sobald die Frau selbst Zugang zu Finanzdienstleistungen bekommt, wird sie sich aus der Vorherrschaft der Männer befreien können. Sie wird in der Lage sein, selbst Entscheidungen zu treffen , und diese Entscheidungen sind immer im Sinne der Familie!”
Klingt zunächst plausibel. Und nicht nur das, diese neuen Mikrobänker klingen richtig sympathisch, empatisch und sogar erfrischend aktivistisch.
Aber wie steht es mit dem Geschäftsmodell?
„Kein Problem. Gutes tun und Gewinnmaximierung müssen  sich doch gar nicht widersprechen!“
Handelt es sich hier um eine Revolution des Finanzwesens, um einen grundlegenden Geisteswandel oder steckt der Teufel tief verborgen in des Bänkers Aktentaschen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir versuchen, uns in die Mentalität der Mikrobänker hinein zu versetzen.

Dem Mikrobänker muss es darum gehen, möglichst viele Kredite möglichst schnell und gewinnträchtig unter die Leute zu bringen. Für den Erfolg ist die hohe Rückzahlquote entscheidend. Und – um daran zu erinnern – zurückgezahlt wird nicht nur der Rumpfbetrag, sondern auch durchschnittlich 30% Zinsen inklusive.
Wer  benötigt traditionellerweise Kredite? Unternehmerische Persönlichkeiten, die entweder eine Geschäftsidee umsetzen wollen oder ein bereits existierendes Business auszubauen gedenken und dafür ein Startkapital benötigen. 

Unternehmer sind in der Regel risikofreudig. Und genau das macht eine Kreditvergabe zum Glücksspiel. Wieviel Risiko darf es sein? Wer hat eine kreditwürdige Idee? Wer kann es sich leisten? Auf  wen kann man setzen?
Bis 1983, also bis zur Gründung der Grameen Bank durch den Ökonom Muhammad Yunus, waren die Nutznießer überwiegend gebildete Männer aus dem Mittelstand oder aus der Oberschicht, die einen Business-Plan vorlegen mussten. Man sah Geschäftstüchtigkeit und Risikobereitschaft eher als männliche Qualitäten an und hielt so Frauen von Finanzdienstleistungen bewusst oder unbewusst fern. Seit den 80iger Jahren scheint sich diese Einstellung allerdings geändert zu haben. Für die weltweit hunderte milliardenschwere Mikrofinanz-Industrie geht es bei der neuen Zielgruppe um wahre Erfolgsgaranten, um die Ärmsten der Armen, um Frauen aus der Unterschicht, die vor dem Grameen-Zeitalter niemals Zugang zu einer Finanzdienstleistung gehabt hätten. Heute aber, unter dem Label der “finanziellen Inklusion”, steht für die Frauen die Tür zu Mikrobanken weit offen. Und nicht nur das, man bittet sie sogar hinein und scheut keine Mühen, ihnen eine “Finanzhilfe” als Sprungbrett aus der Armut schmackhaft zu machen. 

Zur näheren Erklärung: Not macht erfinderisch. Wir alle haben das irgendwann einmal erlebt. In der Krise gelingt es uns plötzlich, unerkannte Potentiale zu aktivieren. Wir sind wach, wehrhaft und widerstandsfähig und wir sind in der Lage, kreative Lösungen für alte und neue Probleme zu finden. Allerdings sind wir in schwierigen Zeiten auch sehr verletzlich und greifen nach jedem Strohhalm, der uns hingehalten wird, ohne abzuwägen, ob die Hilfestellung uns nicht noch tiefer in die Misere zwingt. Beides, sowohl Erfindungsgabe als auch Bedürftigkeit kommt dem Geschäft mit den Mikrokrediten entgegen.

Und dann der “revolutionäre” Fokus auf die Frau: Betrachten wir uns, immer aus der Sicht der Kreditgeber, diese neue Kategorie von Kunden, liegt es auf der Hand, sich ein paar gängiger weiblicher Stereotypen zu bedienen:
“Frauen werden schon als Mädchen zur Selbstlosigkeit erzogen und übernehmen Verantwortung für andere.” “Sie sehen das Wohl der eigenen Familie an erster Stelle. Alles andere, auch persönliche Bedürfnisse, werden hintangestellt.”
“Werden Frauen zu Müttern, haben Kinder und Haushalt Priorität.”

In patriarchalen Strukturen, und die meisten Kulturen dieser Welt sind patriarchal, mögen diese Eigenschaften, die man Frauen und besonders Müttern nachsagt, schon stimmen. Warum auch nicht. Die Frau und Mutter hat oft keine andere Wahl als genau so zu sein wie man es von ihr erwartet. Sorgenvolle Aufopferung, selbstloses Verantwortungsgefühl, das Bedürfnis, es allen recht machen zu wollen, sind nämlich nicht nur wichtig, wenn es darum geht, Kinder großzuziehen oder einen Ehemann bei Laune zu halten. Es sind, wer hätte das gedacht, Eigenschaften, die zur perfekten Mentalität einer kreditwürdigen Persönlichkeit gehören.

Die ungewohnt hohen Rückzahlraten von 95 bis 100%, eine Goldmine für die Finanzbranche, mögen zwar verblüffen, sind aber bei genauerer Betrachtung folgerichtig. In einem Patriarchat lernt die Frau schon von klein auf, zuerst den auferlegten Pflichten nachzukommen und erst dann für sich selbst zu sorgen.
Und genau das passiert. Der Kredit wird pünktlich in voller Höhe, mit Zinsen zurückgezahlt, auch wenn es das eigene Wohlbefinden beeinträchtigt.
Ganz anders bei den männlichen Kreditnehmern, die in der Regel weniger Angst vor dem Druck von außen haben und scheinbar auch gut damit leben können, in der Schuld von anderen zu stehen. Frauen sind also von ihrer Sozialisation her die geeigneteren Schuldnerinnen. Nicht ihre kluge Geschäftspraxis, wo sollen sie das auch gelernt haben, sondern ihre anerzogene Gewissenhaftigkeit ist der Garant für die Rückzahlung.

Hinzu kommt, dass die Analphabetisierung unter Frauen in vielen Ländern sehr hoch ist. Was passiert also mit einem Geschäftsvertrag, der nicht oder nur unzureichend gelesen und verstanden werden kann. Ein Fingerabdruck und der Deal ist rund. Der Mangel an Bildung wird also hier zum Geschäft.
Darüber hinaus gibt es noch andere Eigenschaften, die Frauen zur beliebten Zielgruppe machen.

Gerhard Klas zitiert in seinem Aufsatz, Mythos Mikrokredit, einen ehemaligen Manager der Grameen Bank, Sardar Amin. Hier heißt es: Frauen seien leichter greifbar und weniger mobil.

Das Dorf und die Gemeinschaft wird daher für Frauen besonders wichtig. Oft geschieht es, dass eine Frau ihr Leben lang den eigenen Wohnort nicht verläßt. Jeder weiß, wo sie sich aufhält und was sie tut. Für die Grameen Bank war genau das ein ausschlaggebender Vorteil. “Man kümmert sich und hält zusammen.”
Die oft angewandte zusätzliche Hilfe, die Kleinkreditnehmende bekommen, ist die Zuteilung in eine “Haftungsgrupppe” oder auch “Solidaritätsgruppe”. Es handelt sich dabei um fünf bis zehn Kreditnehmende, die sich gegenseitig beim Aufbau einer eventuellen Geschäftsidee und natürlich bei der Kredit-Rückzahlung unterstützen sollen. Aber hier fängt es an, zu menscheln.

Gerhard Klas und der Dokumentarfilm “Microdebts” von Tom Heinemann zeigen auf, wie genau diese Solidarität ins Gegenteil umschlagen kann, wenn es um Geld geht. Die Frauen fangen an, gegeneinander zu hetzen. Das kranke Kind wird verschwiegen, denn man möchte nicht aus der Gruppe ausgeschlossen werden.
Teh Francis, ein 2016 kanthari Absolvent, war einer der ersten, der Mikrokredite nach Kamerun brachte. Mittlerweile hat er sich von der Praxis abgewandt und geht stattdessen einen für mich überzeugenden alternativen Weg, den ich im vierten Teil dieser Reihe beschreiben werde.

Seine Vorbehalte haben unter Anderem mit den sog. “Solidaritätsgruppen” zu tun. Er machte die Erfahrung, wie der Druck, in der Schuld einer externen Organisation, der MFI (Mikro-Finanz-Institution) zu stehen, sich sehr negativ auf die gesamte Gruppe übertrug. Die Konsequenzen waren nicht Solidarität oder Zusammenhalt, sondern interner Psychoterror. Es blieb nicht dabei, dem zahlungsunfähigen Gruppenmitglied ins Gewissen zu reden. Es ging von Mobbing bis zum Ausschluss und wenn all das nicht half, dann blieb nur noch: “rette sich wer kann!”. Einige der Frauen verschwanden spurlos. Sie ließen ihre Familien zurück in der Annahme, dass die Schulden mit ihrem eigenen Verschwinden getilgt seien. Laut Teh gehören die Frauen, die nicht zurückgezahlt haben, zur Minderheit. Aber auch er ist der Meinung, dass zu große gesundheitliche und psychische Opfer gebracht werden mussten, um die Verträge mit der jeweiligen MFI einhalten zu können.

Und schließlich gibt es nachweislich das Phänomen, dass eine große Anzahl von Frauen Kredite für ihre Ehemänner beantragen. Die kaufen sich dafür Konsumgüter wie Motorräder und Fernseher, und wieder bleibt nichts übrig für die gesunde Ernährung und für die Bildung der Kinder.

“Die Emanzipation der Frau erfolgt nicht einfach durch finanzielle Unabhängigkeit.” Erklärte mir Tosin, eine nigerianische kanthari Absolventin von 2013.

“Meine Mutter hatte mir immer gesagt: mach eine gute Ausbildung und finde einen gutbezahlten Job, dann, nur dann wirst Du niemals Opfer von häuslicher Gewalt werden.” Tosin befolgte den Rat ihrer mutter. Sie studierte und bekam einen gutbezahlten Job. Und trotzdem wurde sie von ihrem Ehemann krankenhausreif geschlagen.

“Ich habe mich verprügeln lassen. Auch wenn ich materiell unabhängig war, war ich geistig noch lange nicht so weit!”
Tosin öffnete mir damals kräftig die Augen. Bis dahin hatte ich keinen Zweifel daran, dass Frauen nur die gleichen Chancen wie Männer haben müssten, dass sie nur finanziell unabhängig sein müssten, um sie aus dem Patriarchat befreien zu können. Aber die Realität ist viel komplizierter.
 
Nachhaltige soziale Veränderung geschieht nur, wenn sich die innere Einstellung zur eigenen Rolle, zum Selbstwert verändert. Dazu muss sich aber auch das Umfeld, sogar eine ganze Gesellschaft in ihren Grundzügen, besonders in ihrem Rollenverständnis verändern. Der anfangs zitierte Satz von Muhammad Yunus  zeigt allerdings, dass es der Grameen Bank und ihren Anhängern nicht um diese Art sozialer Veränderung geht. Die Rollenklischees werden verstärkt und sonst bleibt es eben doch “Business as usual” und das auf Kosten der Frauen.

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