Tag 33 – Von Fröschen, Bibern, und Adlern

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari
Projekt Gifuku

Stellt Euch vor, es gibt ein Problem und keiner kann es umfassend beschreiben. Warum nicht? Weil wir alle mitten drinsitzen. Im kanthari Jargon bedeutet das: wir sind alle Frösche und sehen das Problem aus einer begrenzten Perspektive, nämlich der Frosch-Perspektive.

Normalerweise wird allerdings eine Problem Analyse von außen gestellt. Es sind die journalisten, politiker oder Sozialarbeiter, die dem Problem auf den Grund zu gehen versuchen. Wir nennen sie im kanthari Jargon “Biber”. Ein Biber beobachtet eine Situation von der Seite, aus Sicherer Position. Eine zu emotionale Identifizierung mit den Fröschen könnte den Blick vernebeln, eine vermeintliche Objektivität gefährden.

Und schließlich gibt es die Adler, die Wissenschaftler, Historiker, die das ganze aus der Macro-Perspektive betrachten. Sie ziehen weit entfernt über dem Problem ihre Kreise und stellen aus den gesammelten Eindrücken ihre Analysen. Dabei stützen sie sich eher auf sekundär-Information, nur selten treten sie direkt in Kontakt mit einem Frosch.

In den nächsten drei Blog-Posts werde ich an Hand der drei unterschiedlichen Analytiker entsprechende kanthari-Typen und ihre Herangehensweise beschreiben. Ich nehme mir dafür 3 unterschiedliche Film Projekte vor.

Heute geht es, wie bereits angekündigt, um den Frosch.

Die meisten unserer kanthari Teilnehmer sind Betroffene und Überlebende. Viele sind also Frösche. Sie sitzen oder saßen mitten im Schlamassel. Das gibt ihnen den Vorteil persönliche Auswirkungen aus erster Hand zu beschreiben. Allerdings ist es für einen Frosch eher schwierig, während der Krise einen klaren Überblick zu behalten.

Frösche sind oft getrieben durch Emotionen: Traurigkeit, im schlimmsten Fall, Selbstmitleid, oft aber auch durch Empörung und Wut über Ungerechtigkeit. Manche Frösche sind so überwältigt von dem Problem, dass sie keinen Ausweg sehen und vielleicht auch nicht sehen wollen. Denn eine Rechtfertigung zu haben, Leiden zu dürfen, ist durchaus bequem. Aber es gibt auch Frösche, die Veränderung wollen und dafür kämpfen.

Da ist zum Beispiel Gikufu, ein 2018 kanthari Absolvent. Gikufu wuchs auf in Mukuru, dem drittgrößten Slum von Nairobi.

Bis zu seinem fünften Lebensjahr, lebte er mit seiner Familie in einem Dorf, weit außerhalb der Stattgrenzen.

Die Familie musste fliehen, denn die Mungiki Sekte überfiel ganze Dörfer und mordete und entführte unzählige Personen. Nachdem die Sekte verboten wurde, wütete sie im Geheimen weiter. Die Mitglieder hatten es besonders auf Kinder abgesehen und so machten sich viele Familien davon, um in den Städten ein etwas friedlicheres leben zu finden. Ein “friedliches” Leben bedeutet allerdings in den meisten Fällen eine Existenz auf beengtem Raum in demütigender Armut.

Gikufu beschrieb wie seine Familie mit sieben Geschwistern eine neun Quadratmeter große Hütte bewohnte. Als Sichtschutz gab es Matten an den Seiten und zum Schutz gegen Regen ein Stück Wellblech.

Das Leben fand also notgedrungen hauptsächlich draußen statt. Da gab es zwar keine Mungiki, aber Drogendealer, die sich ohne Skrupel an die kleinsten der Kinder ranmachten, um sie ans Geschäft zu gewöhnen.

Gikufu war mit acht Jahren schon mitten im Drogen-Geschäft. Es gab kaum etwas, was er selbst nicht ausprobiert hatte. Das Geld, das er nach Hause brachte, nutzte seine Familie für Nahrungsmittel, und um Gikufus Geschwister in die Schule zu schicken. Er selbst hatte kaum etwas von seinem Verdienst. Die wenigen Schillinge, die er für sich retten konnte, gab er für Filme aus.

“Wir Kinder vom Mukuru Slum hatten nur eine wirkliche Leidenschaft. Das war bestimmt nicht die Schule, es waren Kinofilme. Um einen Film in einer beengten Bude sehen zu dürfen, investierten wir alles und gingen dafür auch mal hungrig ins Bett.”

Als er älter wurde, hatte er sich oft die Frage gestellt, warum die Eltern ihn nie zur Schule schickten. War er vielleicht nicht schlau genug?

Die einzige in der Familie, die an ihn zu glauben schien, war seine ältere Schwester. Die aber hatte sich in jungen Jahren das Leben genommen und einen Säugling zurückgelassen.

Irgendwann wurde eine Missionarin auf Gikufu aufmerksam. Sie brachte ihn zunächst in eine Küche, in der sich, wie er heute erinnert, wahre Essensberge türmten. Der Deal war: Es gibt nur dann zu Essen, wenn er regelmäßig in die Schule ging.

Das schien zunächst einmal ein für ihn vorteilhaftes Angebot zu sein. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass Schule bedeutet, viele Stunden still zu sitzen und sich zu konzentrieren. Sein Gehirn war auf kurze Impulse geeicht. Das ständige Lernen, ohne etwas dabei zu tun, war zu viel für Gikufu. Er blieb dem Unterricht zunächst fern und nur dank der Hartnäckigkeit der Missionare wurde er immer wieder aufgefunden und zur Schule gebracht.

Schließlich beendete er die Schule mit einem guten Abschluss und sehr guten Englischkenntnissen.

Was ihn bei all der Lernerei niemals aus dem Kopf ging, waren die Filme. Und da es für ihn, dem Kind aus Mukuru, keine Aussichten gab, jemals zu einer Filmakademie zugelassen zu werden, studierte er Medienkommunikation.

Für das kanthari Programm bewarb er sich im Frühjahr 2018 mit der Idee einer Alternativen Schule für Slum-Kinder. Nachdem er die fünf Stufen des Auswahlverfahrens gemeistert hatte und von uns die Einladung zur Teilnahme bekam, passierte zunächst einmal nicht viel. Es blieb verdächtig still auf seiner Seite. Henry, ein Absolvent aus Kenia machte sich schlau und fand heraus, dass er erhebliche Probleme mit seiner Geburtsurkunde zu haben schien. Das heißt, er hatte keine Geburtsurkunde, die war aber wichtig, um einen Reisepass beantragen zu können.

Später sagte Gikufu: “Alle meine Geschwister waren registriert. Nur ich war ein Niemand.” Erst als er nachforschte, fand er heraus, dass er gar nicht der Sohn seiner Eltern, sondern seiner älteren, bereits verstorbenen Schwester war.

In kanthari entwickelte er Mukuru Angaza, eine Filmakademie für Kinder aus dem Mukuru Slum. Sie sollen durch Projektarbeit alle Fähigkeiten erwerben, die sie in einer Schule theoretisch konsumieren würden. Sie lernen Schreiben durch ihre eigenen Geschichten, technisches Denken durch das Konstruieren von Kulissen, die englische Sprache durch Schauspielen und Dialoge. Und sie lernen, sich selbst Wert zu schätzen, denn jetzt sind sie die Stars unter den Slum-Kindern.

Auch während der Corona Krise, gibt es keine Pause. Die Filme haben jetzt ein Thema, “Wie bekämpfen wir das Virus.”

Händewaschen ist nur eine von vielen Ideen. Viel wichtiger aber ist, nicht den Spaß zu verlieren.

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