Wir fragen uns manchmal, wie viele Menschen machen sich eigentlich verrückt, weil nichts in diesem Frühjahr nach Plan gegangen ist?
Alle Veranstaltungen, Prüfungen, Bauvorhaben, Reisen und anstehende medizinische Eingriffe sind entweder ausgefallen oder auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Wie viele Menschen schieben wohl den “Corona Blues”, weil nichts mehr so ist, wie es sein sollte?
Weder Paul noch ich sind besonders anfällig für pessimistische Aussichten und trotzdem hatten auch wir vor einigen Tagen unseren Mini Blues. Es hatte ein Unwetter gegeben, das über mehrere Stunden um den See kreiste. Wasserfall artige Regengüsse, Blitze, Donner und plötzlich ein ohrenbetäubender Knall und wir wussten: jetzt sind wir dran!
Aravind, unser IT Manager machte eine schnelle Schadensaufnahme. Der Blitz hatte unseren Server, sämtliche Batterien, Router und damit das ganze Internet, unsere Nabelschnur zur Außenwelt zerlegt. Was sollten wir tun? Ohne Internet waren wir praktisch abgeschnitten. Wie sollte es jetzt weitergehen?
Und dann fingen wir an, mit dem etwas müßigen: Was wäre, wenn alles nach Plan gegangen wäre? Dann hätten wir am Wochenende 25 zukünftige kantharis aus Guinea, Zimbabwe, England, Ghana, Iran, Kameroon, Afghanistan, Nigeria, Kenia, Uganda, Cambodja, Argentinien Simbabwe und aus Indien willkommen geheißen. Sie wären neugierig durch den Campus gelaufen, hätten vielleicht mutig einen Zeh in den Vellayani See gesteckt und sich zögerlich nach Wasserschlangen erkundigt. Andere hätten gleich, erfreut über den mini Fußball Platz, angefangen, einen Ball herum zu kicken. Im Amphi Theater hätten kleine Gruppen zusammengesessen und sich lebhaft über ihre Anreise ausgetauscht. Viele von ihnen wären das erste Mal geflogen.
Und dann der Ruf: “Kommt mal alle zur Toreinfahrt, Ragu ist gekommen!”
Ragunath, ein Umweltaktivist, Fahrradfahr-Fanatiker und kanthari Alumni aus dem letzten Jahr, hatte für April eine Tour von Kashmir nach kanthari geplant. 5000 Kilometer wäre er durch 10 Staaten in nur 45 Tagen gefahren, alles, um auf seinem Weg tausende von Bäumen zu pflanzen und um die Menschen in Indien auf den täglichen Waldverlust aufmerksam zu machen. Und dann natürlich, um die kantharis seiner Nachfolger Generation zu begrüßen und mit uns gemeinsam den Kurs zu beginnen.
“Good morning everyone! Welcome to kanthari!”
Das wäre Ajith gewesen, ein kanthari Urgestein, ein charismatischer, eher bescheidener Mann aus dem Hintergrund. Ajith ist seit 2008 Teil unseres dreier Gespanns. Ohne ihn gäbe es kein Team und wir, Paul und ich hätten niemals hier fußfassen können. Ajith hat darum auch jedes Jahr das erste und das letzte Wort. Er hätte an diesem Montagmorgen seine Leute vorgestellt, die Köche, die morgens, mittags und abends pünktlich gesunde und einfallsreiche Gerichte auffahren, die Chechis, die alles sauber halten, Wächter, die jeden mit Freundlichkeit willkommen heißen, die Gärtner, die unser Gemüse pflanzen, Blumen pflegen und Fische füttern, und nicht zuletzt das Büro Team, dass sich um Finanzen, das Internet und natürlich um das Training kümmert.
Ajith steht dann vor der Bühne, gleich vor den noch etwas eingeschüchterten Teilnehmern und sorgt dafür, dass sich alle aufgenommen fühlen.
In dieser ersten Woche hätte es Erkundungstouren durch den Campus, das umliegende Dorf und in die nahegelegene Stadt Trivandrum gegeben. Wir hätten eine Schnitzeljagd mit Überraschungen veranstaltet, ein Hunde-Trainer hätte den Teilnehmern selbstbewusstes Auftreten gegenüber aggressiven Straßenhunden beigebracht, und, wenn wir Glück gehabt hätten, wäre Vava, der Schlangenflüsterer mit einem Sack voll frischgefangener Schlangen zum Campus gekommen. Vava ist eine bekannte Persönlichkeit in Kerala, er befreit Schlangen aus den Häusern und Gärten und setzt sie im Wald aus. Zu uns kommt er ab und zu, um den Teilnehmern beizubringen, wie man sich bei einer eher seltenen, aber immer unfreiwilligen Begegnung mit einer Schlange verhalten soll. Die meisten verlieren ihre Angst und die besonders Mutigen lässt Vava die samtig weiche Haut berühren und auch mal eine Python oder eine Rattenschlange auf den Arm nehmen.
Und dann, jedes Jahr am dritten Tag, gibt es keine Zeit zu verschwenden. Es geht los, und das mit einem Zitat, angeblich von Michael Angelo: “The biggest danger ist not to dream big and fail, but to dream small and succeed.”(Die größte Gefahr besteht für die meisten von uns nicht etwa darin, ein Ziel zu hoch anzusetzen und zu scheitern, sondern es zu niedrig anzusetzen und es zu erreichen.)
Damit haben wir bereits die wichtigsten Grundsätze unseres Programms umrissen: 1. Es darf groß geträumt werden, und 2. Scheitern birgt immer eine Chance zum Neuanfang.
Und daran dachten wir, als wir, fast abgeschnitten von der Außenwelt, im Dunkeln, ohne Strom, vor nicht funktionierenden Computern saßen, von Ferne immer noch leises Grollen, als würde das Unwetter uns auslachen wollen. Und in diesem Moment, als hätte jemand unsere düsteren Gedanken gelesen, meldet sich mein Telefon, dass ich vor dem Sturm glücklicherweise noch aufgeladen hatte. Über eine mobile, etwas langsame Internetverbindung bekomme ich eine Message: Es ist Alfred, ein alter Freund aus Universitätszeiten. Und als hätte er es gewusst, fragt er, ob er etwas für uns tun könne.
Das war der Anfang vom Neuanfang. Es geht immer weiter, auch wenn es nicht nach Plan läuft.
Der Blues war vom Tisch und ein neues fast euphorisches Gefühl setzte ein. Was wäre, wenn Corona nicht gewesen wäre? Hätten wir uns so um unsere kanthari Alumni kümmern können? Hätten wir Zeit für diesen Blog gehabt, der jetzt in mehreren Sprachen über die kantharis und ihre Projekte informiert?
Schon seit Jahren hatten wir uns eine Auszeit gewünscht, um die wertvollen Erfahrungen der vielen kanthari Initiativen zu dokumentieren. Bei mehr als 220 Absolventen mit vielen unterschiedlichen Projekt-Ideen drängen sich Fragen auf: Wer von ihnen schafft es, seine Ziele zu erreichen? Wer scheitert und hat den Mut, wieder ganz neu zu beginnen? Warum haben die einen die Durchsetzungskraft in widrigsten Umständen große Initiativen aus dem Boden zu stampfen und warum verlieren andere durch Kleinigkeiten die Lust und reihen sich lieber wieder in den Mainstream ein?
Welche unserer Methoden funktionieren und was könnte man tun, um die kantharis besser auf ihre schwierige und manchmal sogar gefährliche Lebensaufgabe vorzubereiten?
Paul, Aravind, Chacko und ich schreiben zurzeit an einem kanthari Handbuch, mit praktischen Fallbeispielen unserer Alumni und eigens entwickelten Methoden und Techniken. Es ist ein umfassendes Werk mit fast 100 Kapiteln und über tausend Unterkapiteln, mit Illustrationen und selbst kreierten Soundtracks. Es geht um Themen wie Finanzierung, Kommunikation, Konzept-Transformation und Planung, und es geht nicht zuletzt auch um Krisenbewältigung. Kurz um, es handelt sich um ein digitales Nachschlagewerk für jeden, der lernen möchte, groß zu träumen und dabei aktiv die Welt zu verändern.
Wäre also alles nach Plan gegangen, dann…?