Von: Viviane Ruof. Viviane kommt aus der Schweiz, hat im letzten Jahr Abitur gemacht, und auf ihrer Indien Reise, kurz vor dem indischen Lockdown, das kanthari Institut für 3 Tage besucht.
Wie Sprossen, die im Frühling zaghaft durch das Laub stechen, trauen sich nun immer mehr Menschen wieder auf die Straße. Allmählich öffnen die ersten Läden wieder und gestern kehrte zum ersten Mal wieder Leben in die Schulhäuser. Aber nichts wie zuvor. Post-Corona gibt es in diesem Sinne nicht.
Schaut man sich in der Stadt um, sieht man die Gärten so schön gepflegt wie nie und überall auf der Straße stehen ausrangierte Möbel und Bücherkisten. Während man im Verlauf der letzten Wochen wohl manchmal das Gefühl hatte, es sei z.B. Mondwoch der 37. April, gab es genug Zeit die Wohnung aus-, um- und aufzuräumen. Und nicht nur sie, sondern auch uns selbst.
Wir alle wurden auf unterschiedlichste Weise aus unserem Hamsterrad geworfen, sind in hohem Bogen auf dem Gras gelandet und haben nun die Chance mal einen Blick von außen auf all das zu werfen, was wir so gut von innen kennen und alle Einzelteile genau zu studieren.
Jetzt stehen wir vor der Entscheidung: Wollen wir dahin eigentlich zurück? Wir können nur Dinge ändern, über die wir uns bewusst sind und genau dazu ist der erste Schritt nun getan. Wir haben die Möglichkeit, den Wald trotz Bäumen wieder zu sehen!
In anderen Worten gibt uns Corona Raum bzw. Zeit, Fragen zu stellen und rüttelt dabei an so vielem, das uns unverrückbar und selbstverständlich erscheint. Nimmt man die Wohnung als Bild, könnte Corona ein Aufräumer sein, der durchgeht und sagt „sind dir diese Wollmäuse da hinter dem Regal schon mal aufgefallen? Reparier doch mal das kaputte Fensterbrett. Willst du diesen Pullover noch aufheben oder weitergeben?“
Im Übertragenen sind es Fragen wie: „An welchen Strukturen, die ausgedient haben, halten wir fest, Ist nicht jetzt der Zeitpunkt gekommen wieder ans bedingungslose Grundeinkommen zu denken? Wie geht es den schwachen Gliedern in unserer Gesellschaft, deren Stärke unser aller Stärke bestimmt? Wo ist für uns der goldene Mittelweg zwischen Sicherheit und Freiheit? Ab wann raubt Kontrolle Lebensqualität und wie stabil ist das Fundament unserer bürgerlichen Grundrechte? Wer hat die Hoheit über unseren Körper? Ist unser Planet nicht auch ein Patient der Risikogruppe „polymorbid“, den es zu schützen gilt und der infiziert ist mit Homo Sapiens? Welches Schulsystem wollen wir? Welches Gesundheitssystem? Haben wir es hier vielleicht mit einigen kaputten Fensterbrettern zu tun?
Wenn wir jetzt die Möglichkeit haben Strukturen neu aufzubauen, können wir uns fragen, ob der Architekt unsere Angst ist oder Liebe und Zuversicht.
Wir sind ein Ganzes. Wir haben eine Erde, einen wunderschönen Planeten. Und sind trotz aller Vielfalt auch eine Gesellschaft, die bei Verzicht auf Segregation, Ausbeutung und Unterdrückung ein kaum vorstellbares Potenzial und eine gigantische Zugkraft haben kann. Wir haben gesehen, wie schnell alle Hebel in Gang gesetzt werden können, wenn etwas als wichtig erachtet wird. Aber aus dem Getrenntsein entsteht viel Grausamkeit, die im Eins-Sein völlig undenkbar wäre. Nun sitzt zwar jeder getrennt von seiner Umwelt bei sich zu Hause und ist allein. Aber das Allein lässt sich in ein All-ein verwandeln, nur indem man es sich bewusst macht. Ein neues „Wir“ lädt uns ein, wenn wir es nur wollen und damit zu leben beginnen.
Charles Eisenstein, ein renommierter Mathematiker, Philosoph und Vordenker für eine ökologische, vom Geld unabhängige Lebensweise, ruft uns auf: „lasst uns jetzt wirklich aufeinander achtgeben. Erinnern wir uns daran, wie wertvoll jeder und jede von uns ist und wie kostbar das Leben. Machen wir eine Bestandsaufnahme unserer Zivilisation, zerlegen wir sie in Einzelteile, und schauen wir, ob wir daraus nicht eine viel Schönere bauen können.“
Wir haben wieder eine weiße Schneefläche vor uns. All die vorgegebenen, abgetretenen Spuren hat der Neuschnee bedeckt. Wir können staunend davorstehen und uns die schönsten Wege und Spuren ausmalen. In alle Richtungen können wir gehen. Freuen wir uns also auf den Frühling, auf die vielfältige Flora, die sich aus den kleinen Sprösschen entwickelt und beginnen wir in der neuen Realität zu leben. Auf zu neuen Zielen!