Tag 73 – Was können wir von Kolibris in Zeiten von Corona lernen?

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari

Der Kolibri ist dafür bekannt, der kleinste und, bezüglich seiner Körpergröße, der schnellste Vogel der Welt zu sein. Weniger bekannt ist er für seine Flugkünste: Mit 40 bis 50 Flügelschlägen pro Sekunde hält er sich still in der Luft, um aus einer Blühte Nektar saugen zu können, er fliegt rückwärts, seitwärts und ist in der Lage bei drohender Gefahr, schnelle Kehrtwendungen zu vollziehen. Und noch etwas macht ihn zu einem Überlebenden: In Krisenzeiten senkt er seine Temperatur und reduziert so seinen Stoffwechsel und damit seinen Konsum. 😉

Carolina, eine 2019 kanthari Absolventin, gründete “Centro Colibri”. Schon lange war sie fasziniert von den kleinen farbig schillernden Überlebenskünstlern. Für sie steht der Kolibri für Kampfgeist und für stetige Veränderung. Begeistert erzählt sie von ihren Studien: “Wenn sie sich in Scharen zusammentun, können sie Raubvögel in die Flucht schlagen. Und durch die Pollination der farbenprächtigen Blühten, verändern sie die Landschaft, Stück für Stück. (little by little)”

Carolina kommt aus Bolivien. Sie wuchs in einer der schönsten Landschaften auf, zwischen kristallklaren Bächen, Blumenwiesen, Wäldern, Kühen und Kolibris. Doch als Tochter einer gemischtrassigen Ehe erlebte sie Diskriminierung, physische und psychische Gewalt und sexuelle Übergriffe. Vor vielen Jahren besuchte sie als Erwachsene den Ort ihrer Kindheit und empfand die fast unveränderte Region nicht als schön. Für sie schien damals die Landschaft düster und bedrückend.

Nach jahrelanger Therapie konnte sie das folgende zu Papier bringen:
“Und eines Tages wache ich auf, und ich sehe das Leben von einer ganz anderen Seite. Die vielen Momente, die einen erfreuen – ein leuchtender Sonnenuntergang, Vögel singen, der Duft meines morgendlichen Kaffees, oder der würzige Geruch des frischen Brots, das gerade aus dem Ofen kommt, alles wird intensiv und lebendig. und ich weiß, ich kann all dies erfahren, so als hätte ich ein neues Ich.

Ich hatte so einen Tag, und an diesem Tag schwor ich mir: Niemals wieder solche Schmerzen auszuhalten.

Heute sehe ich das Leben in seiner ganzen Pracht. Aber es dauerte viele Jahre bis ich zu diesem Punkt gekommen war.

Und da ich heute gesund bin, kann ich mit Selbstvertrauen sagen: Mein Name ist Carolina und ich bin eine Überlebende.”

Ursprünge der Gewalt

Bolivien ist ein Land, berühmt für seine mannigfaltigen Kulturen und atemberaubend schönen Berg und Dschungel Regionen. Aber es gibt auch eine Schattenseite, über die nicht so viel bekannt ist. Laut neuester Studien gehört Bolivien zu den Ländern mit der höchsten Rate an Gewalttaten an Frauen und Kindern.

Margareta war dreizehn Jahre alt, als ein Cousin ihre Familie besuchte, um da seine Ferien zu verbringen. Als Margareta ihrer Mutter sagte, der Cousin habe sie vergewaltigt und sie fühle sich bedroht, wurde die Mutter wütend, nicht auf ihn, sondern auf Margareta. Mit einem Stück Holz schlug sie auf ihr eigenes Kind ein, und dabei hatte sie es beinahe getötet. Später erfuhr Margareta, dass sie schwanger sei und jetzt versuchte sie sich selbst das Leben zu nehmen. Verwandte retteten sie und halfen ihr zu fliehen.

Mit Hilfe von katholischen Nonnen bekommt Carolina Kontakt zu Mädchen und jungen Frauen mit diesen und ähnlichen Schicksalen. In den meisten Fällen schweigen die Mädchen. Nichts kommt ans Licht.

Laut Carolina ist dies eine typische Geschichte, so ergeht es vielen in allen gesellschaftlichen Schichten. Besonders betroffen sind allerdings die Armen in der Stadt und auf dem Land. Sie haben kein Geld, einen Anwalt einzuschalten und haben auch keine Ahnung, dass sie Rechte haben.

Dafür, dass Gewalt und sexuelle Übergriffe als alltägliches Kavaliersdelikt gesehen wird, macht Carolina die in Bolivien tief verwurzelte Machismo Kultur verantwortlich.

“Männer werden zur Aggression erzogen. Frauen und Mädchen müssen sich fügen. Sie werden in Liedern, Literatur und in der Werbung zu Sexobjekten reduziert und werden daher überwiegend zu belächelten Opfern von physischer und psychischer Gewalt.”

Centro Colibri

Carolina ist dabei, ein Zentrum für Frauen und Kinder in Not aufzubauen. Aber es geht mehr als nur um Zuflucht. Sie möchte den Mädchen und Frauen dazu verhelfen, Kolibris zu werden. “Sie sind zwar klein und wirken verwundbar, aber sie sind schnell und können sich wehren.”

In drei Phasen versucht sie die verwundeten Mädchen und Frauen wieder flügge zu machen.

Die erste Phase nennt sie: “Nesting”. Die Gewalt-Opfer werden in einer schützenden Umgebung aufgefangen und psychisch und physisch gesundgepflegt.

Die nächste Phase ist: “Fledging”. Da lernen sie zu fliegen. Durch Training im Kunsthandwerk und durch Musik und Malerei lernen sie sich von den traumatischen Erlebnissen zu befreien.

In der dritten Phase “Pollination”, werden sie mit ihrem neu erworbenen Selbstvertrauen in die Gesellschaft ausschwärmen, um die Landschaft, die Kultur zu verändern, Stück für Stück, “Little by little.”

Sie selbst hat, dank einer Therapie, diesen Heilungsprozess durchlebt und fühlt sich nun sicher genug, auch anderen in ihren Notsituationen beizustehen, ihnen zu helfen, Krisen zu überwinden.

In einem Telefongespräch sagt sie: “Die Corona Krise birgt nicht nur eine gesundheitliche Gefahr.
Es handelt sich um eine Krise, die besonders Frauen und Mädchen betrifft. Sie sind während der Ausgangssperre mit gewalttätigen Familienangehörigen wochenlang eingeschlossen und können sich kaum wehren. Und für die Armen kommt der Hunger dazu. Die Angst davor, bald nicht mehr genügend zu Essen zu haben, macht umso mehr aggressiv.”

Carolina fühlt sich durch die verhängte Ausgangssperre machtlos. Wie ein Kolibri schwirrt sie auf der Stelle und kann sich nicht direkt um die Frauen und Kinder in Not kümmern.

Bei einem kurzen Gang zum Markt traf sie auf eine Frau, die offensichtlich einer Mennoniten Gemeinde angehört. Bei den Mennoniten handelt es sich um eine freikirchliche Gemeinde die im 18. Jahrhundert aus Preußen nach Kanada und dann von da Anfang des 20. Jahrhunderts nach Bolivien ausgewandert war. Ähnlich wie die Amisch in den USA, leben viele Mennoniten in strikter Abgeschiedenheit. Und diese Gemeinden in Bolivien sind, so Carolina, dafür bekannt, Frauen und Mädchen zu unterdrücken. Im Jahr 2011 gab es mehrere Fälle von Vergewaltigung, die durch einen kanadischen Autor bekannt wurden.

Sonst weiß man aber nicht viel über die Mennoniten. Und daher war es für Carolina etwas ganz besonderes, auf eine Mennonitin ohne Begleitung zu treffen.

Die Frau war mit dem Bus in die Stadt gekommen, was schon an sich der Mennoniten Kultur entgegenspricht. Viele Gruppen fahren ausschließlich mit Kutsche und lehnen auch sonst alle modernen Errungenschaften, sei es Haushaltsgeräte, Fernseher, Computer oder landwirtschaftliche Geräte ab. Die Frau sprach kein Spanisch und sie unterhielten sich daher auf Englisch.

Carolina erkundigte sich über die Folgen der Corona Krise. sie schien verwirrt und Carolina wurde bald bewusst, dass die Gemeinde wenig davon mitbekommen hatte. Es schien weder Hunger noch Krankheitsfälle in ihren Kolonien zu geben. Die Landwirtschaft der Mennoniten, die Hundertausende ernährt, wird ausschließlich mit traditionellen Methoden betrieben. Es gibt keine chemischen Pestizide und nur Naturdünger. Auch der Klimawandel schien bisher keine größeren Folgen zu haben, denn die Mennoniten bauen unterschiedliche Getreidesorten an, die in verschiedener Weise an die Klima Veränderungen angepasst sind.

“Hunger bleibt ein Thema, ob durch auferlegte Ausgangssperren oder durch Klima Wandel verursacht. Und hier können wir von den Techniken der Mennoniten Lernen.”

Für Centro Colibri plant Carolina nun ein neues Flugmanöver. Neben Handwerkskunst und Musik wird sie nun auch die Traditionelle Landwirtschaft in das Programm aufnehmen.

“Während Krisen Zeiten schließen sich viele Türen, die man für offen geglaubt hatte. Aber es öffnen sich andere, von denen man nichts ahnen konnte.”

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