Tag 340 – Lerne “Nein” zu sagen, damit man in den richtigen Momenten “Ja” sagen kann

Chacko Jaco
kanthari Catalyst

Leute fragen sich oft, warum gerade Trivandrum als Ort für kanthari ausgewählt wurde. Warum nicht eine Großstadt wie Mumbai oder Delhi? Zunächst einmal hat der Staat Kerala etwas Besonderes zu bieten. Kerala steht international vorne an, wenn es um Alphabetisierung, Gesundheitsvorsorge und im Allgemeinen um Lebensqualität geht. Der durchschnittliche Bewohner ist umweltbewußt und freut sich über ein gesundes Ökosystem. Auch die Toleranz und Akzeptanz unterschiedlicher Glaubensrichtungen ist sehr viel höher als in anderen Staaten Indiens.

Und hier hat eine Frau, die in einer Mittelstandsfamilie, der Vater Elektriker und die Mutter Versicherungsangestellte, geboren wurde, die Möglichkeit, mit 21 Jahren die jüngste Bürgermeisterin Indiens zu werden. Das machte natürlich großes Aufsehen.

Auf die Fragen der internationalen Medienöffentlichkeit, sagt Arya Rajendran, es sei ihr nicht so wichtig, die jüngste zu sein, viel wichtiger wäre es, wenn sie als die erfolgreichste Bürgermeisterin in die Geschichte einginge.

Wir hatten vor einigen Wochen Gelegenheit, Bürgermeisterin Arya Rajendran zu treffen. Wir wollten ihre Ansichten zu einigen Themen, die uns wichtig sind, einholen. Unsere Interessen drehten sich hauptsächlich um die Barrierefreiheit in öffentlichen Einrichtungen und um die Umwelt, mit besonderem Fokus auf die Abfallbeseitigung.

Ein kritischer Blick durch die Städte Indiens verrät uns, dass man im Bau von öffentlichen Gebäuden nicht als erstes an Menschen mit Behinderungen gedacht hat. Selbst die offizielle Begrifflichkeit um das Thema Behinderung, die erzwungene Schönfärberei (“blind” wird zu “visuell herausgefordert”, “Behinderung” zu “anders begabt”), legt offen, wie verunsichert die Gesellschaft immer noch mit dem Thema “anders zu sein” umgeht.

Von gleichberechtigter Integration sind wir in Indien noch weit entfernt. Dadurch, dass wir die Fakten nicht beim Namen nennen, fördern wir nicht, im Gegenteil, wir sorgen dafür, dass der Graben noch tiefer wird.

Sabriye, Gründerin des kanthari Instituts erklärt, wie sie das Leben als Blinde in Trivandrum empfindet. Vielen ist der weiße Stock als Symbol unbekannt, da die Blinden sich hier schämen, ihn zu benutzen.

Die öffentlichen Verkehrsmittel sind weder für Gehbehinderte noch für Menschen, die nicht des Malayalam mächtig sind, barrierefrei. Man kann sich nicht nach einer einfachen Bus-Nummer erkundigen. Das Ziel steht in Malayalam vorne an. Auch werden Stationen nicht angesagt. Man muss sich schon auskennen, um rechtzeitig abspringen zu können.

Jeder von uns wird, wenn wir das Glück haben ein hohes Alter zu erreichen, irgendwann einmal behindert. Wir werden schlechter sehen, schlechter hören oder schlechter gehen können. Also, warum nicht jetzt schon dafür sorgen, dass wir alle im Alter noch am gesellschaftlichem Leben aktiv teilhaben können?

Obwohl es nicht ihr Steckenpferd war, gibt die Bürgermeisterin zu, dass es in Bezug auf die Barrierefreiheit in Trivandrum noch viel zu tun gibt. Sie verspricht, das Thema auf ihre Agenda zu setzen und ein Expertenteam zu organisieren. Sie sieht ohne Einschränkungen ein, dass es viel geschickter ist, alle Dienstleistungen für alle Barrierefrei zu konzipieren, als aufwändig spezielle behindertengerechte Maßnahmen zu treffen. Wir sind gespannt, was daraus wird, aber auch zuversichtlich, dass sie meint, was sie sagt.

Jetzt aber zu ihrem ganz eigenen Interesse: Umweltschutz und Abfallbeseitigung. Das kanthari Institut grenzt direkt ans Ufer des Vellayani Sees. Unsere Leidenschaft, den See zu säubern, ist allen Leser(innen) dieses Blogs bekannt. Der See ist noch einer der saubersten Frischwasserseen Südindiens, daher sind tausende von Menschen und hunderte von Vogel- und Fischarten von der Qualität des Wassers abhängig. Doch leider schreitet auch hier die Verschmutzung in Form von Düngemitteln und in den See geschwemmten Müll voran. Zudem, und darüber haben wir des Öfteren berichtet, gibt es viele invasive Pflanzenarten, die das Ökosystem beeinträchtigen und teilweise nur manuell herausgenommen werden können.

Auf die Frage, was die Stadt Trivandrum, die übrigens zum Teil auch vom Frischwasser des Vellayani profitiert, für den See am seinem Stadtrand tun könnte, sagte die Bürgermeisterin, es sei wichtig, die Anwohner von der Notwendigkeit ihr Leben zu ändern zu überzeugen. Die Bewohner müssen erkennen, dass jeder Müll, der in die Umwelt gerät, durch verschmutztes Trinkwasser wieder zu ihnen zurückkommt. Sie sieht auch die Möglichkeit, arbeitslose Jugendliche in den Schutz des Sees einzubeziehen.

Es müssen auch konkrete Schritte zur Bestrafung von Abfall-Sündern unternommen werden. Wir hoffen, dass sie sich durch ein vorbildhaftes Umweltmodell einen großen Namen macht.

Das Gespräch drehte sich schließlich um das Persönliche: Wir sehen in Arya Rajendran eine kanthari Persönlichkeit. Wie unsere Teilnehmer aus der ganzen Welt ist auch sie krisenerprobt und damit eine Überlebende und sie ist Wegbereiterin für eine offenere Gesellschaft. Wir baten sie, anderen kantharis einen Denkanstoß mitzugeben.

Ihre eigene Familie musste große finanzielle Probleme durchstehen. Nur weil sie jetzt Bürgermeisterin ist, sind diese Probleme nicht gleich vom Tisch. Wichtig sei in diesen Situationen, dass sie eng miteinander verbunden sind. Man unterstützt sich und gibt sich so gegenseitig Sicherheit. So können Unsicherheiten in Mut umgewandelt werden. Sobald sie mit Problemen konfrontiert wird, erinnert sie sich daran, dass sie eine “Porali” ist: eine Kämpferin.

Wenn sie an das Schlimmste denkt, das passieren könnte, gibt das ihr auch die Kraft, klare Entscheidungen zu treffen. Und schließlich betonte sie die Notwendigkeit, “Nein” zu sagen, damit man in den richtigen Momenten “Ja” sagen kann. Wir von kanthari wünschen der Bürgermeisterin Arya Rajendran alles Gute für ihre Amtszeit; wir freuen uns besonders auf die Fortschritte bei der Abfallbeseitigung und bei der Transformation Trivandrums in eine barrierefreie und lebenswerte Stadt.

 

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