Tag 44 – Sport: Entertainment? Sozialer Klebstoff?  Oder Lebensretter?

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari
Arthanas auf dem kanthari Campus

Von Riya Orison, Praktikantin am kanthari Institut während der Ausgangssperre

Die Pandemie hat uns alle dazu angestimmt, die Bedeutung vieler alltäglicher Aktivitäten in Frage zu stellen. Eine dieser Fragen, dreht sich um Sport. Sport im Fernsehen oder Sport als Aktion.

Während einer Diskussion im kanthari Team, war Paul der klaren Ansicht, dass wir gut auf Sportereignisse wie Fußball im Fernsehen verzichten können. “Fußball ist nicht so wichtig, wie Viele das immer meinen, das wird jetzt deutlich.” Paul sagt das, obwohl er begeisterter Fußball-Fan ist.

Klar, Sport ist während einer Krise vielleicht nicht so wichtig wie Gesundheitsfürsorge oder Ernährung. Aber es ist Unterhaltung, die Menschen auf der ganzen Welt verbindet.

Fans nehmen sich eine Auszeit von ihrem vollen Terminkalender und wachen sogar in frühen Morgenstunden auf, um das Sportgeschehen live mitzuerleben. Die sozialen Medien sind voll von leidenschaftlichen Diskussionen über die Leistungen der Mannschaften. Kurz, Emotionen gehen hoch, wenn es um Sport im Fernsehen geht.

Es besteht kein Zweifel, dass das Coronavirus dem Sport kräftig geschadet hat. Das größte Opfer, war wohl die Verschiebung der Olympischen Spiele, was sich auf die Vorbereitung und das Gesamtleben von rund 11.000 olympischen und 4.400 paralympischen Athleten auswirkt.

Die Olympischen Spiele 2020 waren ein Ereignis, auf das wir uns auch als Familie gefreut hatten. Es gehört schon ein bisschen zu einer Familientradition, sich im Wohnzimmer zu versammeln und die Olympischen Spiele zu sehen. Darauf müssen wir jetzt ein weiteres Jahr warten.

In meiner Familie, von Großeltern über Eltern und Geschwister wurde Sport immer als wichtiger Teil des Lebens angesehen.

Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen ist das Schwimmen im Fluss Periyar. Der Periya fließt in der Nähe unseres Hauses, in Aluva im Bezirk Ernakulam. Das ist etwa in der Mitte des südindischen Staates Kerala. Da wir am Fluss wohnten, sah es mein Vater als Pflicht an, uns dreien das Schwimmen beizubringen.

Zuerst hatte ich allerdings Angst vor dem Wasser. Während mein Bruder und mein Vater es genossen, im Fluss zu schwimmen, saßen meine Schwester und ich auf den Stufen und tauchten vielleicht gerade einmal einen Fuß hinein. Unser Vater hat uns nicht gezwungen, er wusste wohl, dass der Spaß, den die beiden hatten, ansteckend auf uns wirken würde. Und seitdem lässt mich das Wasser nicht mehr los.

Um unsere Schwimmtechnik zu verbessern, wurden wir drei in einen Schwimmverein angemeldet. Innerhalb eines Monats nach dem Training meldete sich das “Orison-Trio”, also unsere drei Geschwister mit viel Überzeugungskraft unseres damaligen Trainers für die Distriktmeisterschaft an. 

Dass ein Wettkampf eine ernsthafte Sache war, war uns damals noch nicht bewusst, und das machte den ganzen Prozess zu einer großartigen Erfahrung. In meinem allerersten Wettkampf besiegte ich den damaligen Kerala Meister in meiner Kategorie. Das Glücksgefühl nach der Meisterschaft, kann man gar nicht mit Worten beschreiben. Bald traten wir drei in den staatlichen Meisterschaften an und wir gewannen später Medaillen auf nationaler Ebene.

Meine Geschwister und ich hatten wirklich das Glück, unterstützende Eltern zu haben. Sie haben einen Großteil ihrer Zeit und Energie darauf verwendet, uns aus dem Bett zu holen, um Sport zu betreiben und uns für Trainingseinheiten und Wettkämpfe im ganzen Land herumzufahren. Nicht jeder kann sich so glücklich schätzen.

Während meiner Praktikumszeit im kanthari Institut, hörte ich von Arthanas Matongo, einem 2017 kanthari Absolventen. Er stammt aus einer eher konservativen Familie in Simbabwe, die aus religiösen Gründen gegen Sport und Wettkämpfe war. Er hatte also nicht das Glück, von seinen Eltern gefördert zu werden. Doch er schaffte es als Langstreckenläufer allein durch die Tatsache, dass er als kleiner Junge lange Strecken zur Schule laufen musste. Um nicht zu spät zu kommen, wurde er schneller und schneller. Das war der eine Grund, der andere war die Wut, die ihn antrieb. Er war wütend über Verluste, die er als Kind erfahren musste. Diese Kombination von Zeitmangel und Wut machte ihn zu einem internationalen Athleten. Erst später wurde er ein Marathonläufer, der von hervorragenden Trainern ausgebildet und betreut wurde.

Arthanas kommt aus einer abgelegenen Region Simbabwes. Seine Familie war arm und die Eltern fühlten sich gezwungen, die Schwestern schon im Kindesalter zu verheiraten. Als Teenager verlor er durch eine Kinderheirat seine 14-jährige Jugendfreundin. Sie wurde zwangsweise mit einem örtlichen Geschäftsmann verheiratet. Dafür erhielt die Familie ein wenig Vieh, um über die Runden zu kommen.

Wie viele andere in seinem Dorf wurden auch seine Schwestern noch vor Eintreten der Volljährigkeit verheiratet. In der Nacht, in der seine ältere Schwester gegen ihren Willen als Braut weggegeben werden sollte, beging sie Selbstmord. Wenige Jahre später wurde seine andere Schwester mit einem Mann verheiratet, der alt genug war, ihr Großvater sein zu können. Seine dritte Schwester wurde im Alter von 16 Jahren verheiratet. Sie wurde HIV-positiv. Seine jüngste Schwester starb an einer Krankheit, die auf AIDS zurückging und hinterließ vier Kinder, die von Arthanas großgezogen wurden.

60% der Mädchen in abgelegenen Gebieten muss heute noch Zwangsehen fürchten. Ursache sind oft Armut und religiöse Überzeugung.

Kirchenälteste führen bei 12-jährigen Mädchen Jungfräulichkeitstests durch. Sie werden dann, wenn sie den Test bestehen, an ältere Männer versteigert.

Arthanas rannte, um sich Luft zu machen und dabei erlebte er die Welt. Jetzt ist er zurück in seiner Region und will etwas verändern.

Während des kanthari-Kurses konnte er seine Ziele und Visionen in eine soziale Initiative transformieren. Er gründete die “Waruka-Akademie”, die Teenager in verschiedenen Sportarten wie Leichtathletik, Gymnastik, Hockey und Langstreckenläufe ausbildet. Von der Regierung bekam er dafür ein großes Stück Land. Darauf baut er seine Akademie und für die armen Eltern erschafft er landwirtschaftliche Möglichkeiten.  Der Sport gibt den Mädchen die Möglichkeit, aus ihren Traditionen auszubrechen und ihre eigenen Wege zu gehen. Seine Vision ist einfach: Ein Simbabwe, in dem es keine Zwangsehen geben kann.

Wir dürfen also Sport nicht zu Gering einschätzen. Für die einen ist er eine Form der Unterhaltung oder ein einfaches Hobby, für das es sich zu leben lohnt.

Für die anderen bedeutet er Überleben, Ausbruch, der Gefahr entkommen können.

Wie Nelson Mandela einmal sagte: “Sport hat die Macht, die Welt zu verändern. Er hat die Macht, zu inspirieren. Er hat die Macht, Menschen auf eine Art und Weise zu vereinen, wie es sonst kaum jemand tut. Er spricht zu Jugendlichen in einer Sprache, die sie verstehen.“

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