Wofür es sich zu streiten lohnt

Sabriye Tenberken
Co-Gründerin von kanthari

“Barrierefreiheit für Behinderte kann nur in Friedenszeiten realiert werden. Um in Katastrophenzeiten zu überleben, müssen wir im Voraus darauf vorbereitet sein, unter allen denkbaren Umständen zu leben.” – Nematullah Ahangosh.

Der Tag, an dem unsere blinden Schüler etwas ratlos von einer Stadtbegehung mit dem Lhasa-Behindertenbüro zurückkamen, ist noch gut in meiner Erinnerung. Die Mitarbeiter der Behörde waren morgens in unserer Schule eingetroffen und verkündeten großspurig eine Überraschung. Alle älteren Kinder sollten ihre Blindenstöcke mitnehmen, man mache gemeinsam einen Stadtrundgang. Es war offensichtlich, dass unsere Schüler, die sehr selbstständig aufwuchsen und tagtäglich allein oder auch in Gruppen ihre Streifzüge durch die nahgelegende Altstadt von Lhasa unternahmen, von einer behördlich überwachten Stadtbegehung nicht besonders begeistert waren. Doch sie begleiteten die Offiziellen ohne Murren, vielleicht um ihnen einen Gefallen zu tun. Paul und ich waren hingegen sehr gespannt, was es so wichtiges im Stadtbild gab), dass es unseren Schülern vorgeführt werden sollte?

“Nichts Besonderes”, meinte einer der Jungen, nachdem sie, ihre Stöcke hinter sich her ziehend, etwas gelangweilt zurück in die Schule schlurften. “nur zwei Betonrillen auf dem Gehweg. “Gemeinsam mit Yudron, einer ehemaligen Schülerin, die nach unbegleiteten Reisen und nach Studien im Mainland China und Malaysa mittlerweile bei uns als Lehrerin tätig war, machten wir uns auf die Suche und stießen auf taktile Leitlinien, die speziell für Blinde auf den Bürgersteigen, rund um die Altstadt angebracht worden waren. “Ist doch mal ein Fortschritt!” meinte ich gutgelaunt, doch Yudron blieb skeptisch. “Damit macht man uns nur abhängig und irgenwann werden wir nicht mehr in der Lage sein, unsere eigenen Wege zu finden.”

An diese Aussage erinnerte ich mich, als Paul und ich einige Zeit später durch Honkong reisten. Überall gab es diese Leitlinien auf Bürgersteigen, überall akkustische Ampeln und Braillebeschriftungen. Doch als wir uns mit einigen lokalen Blinden unterhielten, ob sie denn auch mal außerhalb Hongkongs etwas unternähmen, waren die Antworten einhellig: Nur in Hongkong. Woanders gäbe es zu viele Barrieren.

Während unserer Zeit in Tibet und in Indien hatte sich allerdings auch in Europa bezüglich der Barrierefreiheit einiges getan. Bei meinen kurzen Aufenthalten in Deutschland war ich doch recht erstaunt über die mannigfaltigen Anpassungen, manche in meinen Augen sinnvoller als andere. Zum Beispiel: Braillebeschriftungen auf Medikamentenschachteln oder in öffentlichen Aufzügen sehe ich durchaus als notwendige Errungenschaft. Dann aber gab es bald in jedem Bahnhof, in sämtlichen Fußgängerzonen diese Leitlinien, die mich zunächst eher verwirrten. Irgendwann machte ich mir einen Spaß daraus, steckte die Spitze meines Stockes in eine der Rillen und ging drauflos. Doch während ich mich darauf konzentrierte, mich ganz auf diese Rille zu verlassen, fühlte ich mich schnell von meinem Orientierungssinn im Stich gelassen und so brach ich das Experiment bald wieder ab, mit dem gemischten Gefühl in Sachen Mobilität zur “alten Schule” zu gehören.

Währund unserer Zeit in Indien wurden wir so gut wie gar nicht mit dem Thema der Barrierefreiheit für Blinde konfrontiert. Natürlich machte ich mich in Konferenzen und Gesprächen mit Regierungsangehörigen für ein rollstuhlgerechtes Kerala stark, für Rampen, Aufzüge und rollstuhlfreundliche Toiletten, aber taktile Leitlinien für Blinde auf Bürgersteigen hatten für mich überhaupt keine Priorität. Ich hatte sie bei meinen Reisen durch Asien nicht vermisst und daher vollkommen vergessen. Erst als Sonderpädagogen im kanthari Campus auftauchten und sich darüber mokierten, dass Wege nicht blindengemäß gekennzeichnet seien und die Flure nicht rechtwinklig zueinander lägen und dadurch der Blinde in seiner Orientierung eingeschränkt würde, wurden wir bockig und meinten, die Welt ist rund und bestünde nicht aus “blindenfreundlichen” 90 Grad Winkeln.

Viele der blinden kantharis, die bei uns lernten, Organisationen zu gründen, kamen aus afrikanischen Ländern. Sie hatten, wie unsere blinden Kinder in Tibet, gelernt, sich in unwegsamem Terrain zurecht zu finden. Auch für sie bestanden die größten Errungenschaften, für die es sich zu kämpfen lohnt, nicht in aufwändigen infrastrukturellen Anpassungen, sondern in einer qualitativ hochwertigen Ausbildung.

“Und wie stehen blinde Inderinnen und Inder zur barrierefreien Infrastruktur?” fragte mich mal ein deutscher Journalist, der, selbst blind, mittlerweile sich an den Reisekomfort in Europa gewöhnt hatte. “Nun, was man nicht weiß, macht einen nicht heiß!” antwortete ich knapp und erklärte dann, dass in Indien nur wenige den Mut hätten, sich, alleine, lediglich mit weißem Stock ausgerüstet, in das Verkehrschaos zu stürzen. “Wozu braucht man Leitlinien, wenn es noch nicht einmal Bürgersteige gibt!” Und dann, vor einigen Wochen, wurde ich sehr unsanft von Blinden meiner Wahlheimat Indien darauf aufmerksam gemacht, dass man hier sehr wohl für blindengerechte Infrastruktur kämpfte.

Ich hatte die Möglichkeit, ein zweiwöchiges “Survival Camp” für Blinde von der Seitenlinie mitzuverfolgen. Nematullah Ahangosh, der Gründer der Initiative “Stretch More” und Organisator des Survival Camps, ist Absolvent des letzten kanthari Kurses. Er kommt aus Afghanistan und kann, da er sich hin und wieder in internationalen Medien erbost über die dort herrschenden Zustände ausgelassen hatte, zunächst einmal nicht mehr dahin zurück. Nemat, wie wir ihn hier in kanthari nennen, ist gehbehindert. Aufgrund einer fortschreitenden Muskelerkrankung weiß er, dass er in nicht all zu langer Zeit im Rollstuhl sitzen wird. In seiner Abschlussrede bei den kanthari talks beschrieb er eindrücklich, wie gefählich ein Kriegsgebiet für Menschen mit Behinderungen ist.

“Im Chaos sind alle behindert.”, sagt Nematullah lakonisch. “Man vergisst uns. Deshalb müssen wir lernen, uns in Krisen selbst zu retten.” Jetzt bietet er mit seiner Initiative “Stretch-More“ Survival Camps für Behinderte in Krisengebieten an. Trotz der Tatsache, dass Kerala zu einem der friedlichsten Staaten Indiens zählt, gibt es auch hier Krisen, die gerade für Menschen mit Behinderungen lebensbedrohlich sein können. Denken wir nur an die Jahrhundert-Flutkatastrophe von 2018, in der viele Menschen starben, weil sie nicht schwimmen konnten.

 

Nemat machte eine kleine Werbekampagne, und die Mutigsten, vier blinde junge Männer, meldeten sich für einen zweiwöchigen Workshop an. Gemeinsam mit Riya, einer unserer Catalysatorinnen und selbst ehemalige Schwimmerin im Jugend-National-Team Indiens, organisierten sie ein intensives Schwimmtraining. Zusätzlich lernten sie auch alles, was ihnen zum Überleben in einer Krise helfen könnte: Verschiedene Methoden, Wasser zu filtern, Schutzhütten bauen, ohne Streichhölzer Feuer machen und als erste Hilfe Wunden versorgen bis der Arzt kommt. “Das mit dem Feuermachen hat nicht geklappt.”, meinte Nemat und fügte ironisch hinzu, “wir wären schon längst jämmerlich verhungert!”

Da ich Nemats Teilnehmer für unvergleichlich unternehmungslustig hielt, lud ich sie zu einer schon länger geplanten Fokusgruppendiskussion mit Repräsentanten der Kerala Universität für Architektur ein. Bei der Diskussion ging es um universales Design und um die Frage, ob blindenfreundliche Infrastruktur wirklich notwendig sei oder ob man die knappen oeffentlichen Gelder nicht besser für wirklich notwendige aber teure Baumaßnahmen für Gehbehinderte verwenden sollte. Denn taktile Untergrundsbeläge müssten, wie viele Straßen in den Tropen, jährlich erneuert werden. Blinde kämen auch so gut zurecht. Wenn man etwas für uns tun wollte, dann sollte man öffentliche Gelder doch besser in stabile Langstöcke und gutes Mobilitätstraining investieren.

Unbedacht, und im Glauben, nicht allein mit meiner Meinung da zu stehen, machte ich meine Witzchen über Leitlinien und bekam prompt von den anderen blinden Diskussionsteilnehmern eine verbale Tracht Prügel. Sie machten mir all zu deutlich, dass sie sich von mir und meinen Ideen verraten fühlten. Und als Nemat die Diskussion später noch einmal aufgriff, beschuldigten sie auch ihn, gegen Blindentechniken und blindengerechte infrastrukturelle Maßnahmen zu sein. Nemat war von den Vorwürfen zunächst überrascht, vielleicht sogar ein wenig gekränkt. Doch dann wurde uns etwas Entscheidendes bewusst: Wir beide, Nemat und ich, hatten zwar in unterschiedlicher Weise die Erfahrung gemacht, dass Barrieren durchaus auch stärken können. Es geht Nemat aber, wie auch uns in kanthari, um Empowerment, um die Befähigung, in jeder Lebenslage, wenn nötig auch alleine, zurecht zu kommen. Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen, ist es so wichtig zu wissen, für welche Maßnahmen wir uns einsetzen müssen. Dabei spielt eine solidarische Grundhaltung unter den verschiedenen Behindertengruppen eine ganz wichtige Rolle. Während Blinde sich mit entsprechendem Training auch ohne Leitlinien, mehr oder weniger schnell, mal mit oder ohne Hilfe Überall zurecht finden können, sind Treppen ohne Rampe oder Aufzug für Menschen im Rollstuhl unüberwindlich. Anders sieht es dafür im Internet aus. Viele Webseiten sind für Blinde, die auf Bildschirmlesesysteme angewiesen sind, nicht zugänglich. Hier sind wir diejenigen, die im virtuellen Sinne eine Rampe oder einen Aufzug benötigen. Letztendlich geht es um Selbstverantwortung ohne Bevormundung und darum geht es uns in erster Linie, mit Bedacht entscheiden zu können, wofür es sich überhaupt zu streiten lohnt.

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